096 - Die Gräfin von Ascot
alle selbst. Herman hat sie so gern.«
Mr. Fenner war empört.
»Es ist etwas Entsetzliches, wenn man keine Erziehung hat! - Wie steht's denn mit dieser jungen Dame, die war doch wohl auf einem College?« Kühn nahm er wieder ein Buch vom Tisch.
»›Die Versuchung der Herzogin.‹ Mrs. Carawood, Sie sind immer romantisch gewesen.«
Aber damit hatte er eine sehr empfindliche Stelle bei ihr getroffen. »Ja, ich bin romantisch, und wenn man sich auch mit Geschäften abgeben muß, ist es doch eine Freude, sich in der Phantasie Marmorhallen und Paläste vorzustellen.«
»Ich verstehe«, sagte Fenner. »Deshalb gehen die Leute auch soviel ins Kino.«
Sie nahm ihn an den Schultern und schob ihn in die Mitte des Zimmers. »Fenner, ich sehe Sie ja von Zeit zu Zeit gern, aber haben Sie denn überhaupt nichts zu arbeiten? Sie verschwenden hier Ihre Zeit, und ich hasse es, wenn jemand das tut.«
Und nun gab er eine gewundene Erklärung ab. Sein Chef war krank. Mrs. Carawood kannte den alten Mann; er hatte eine Tischlerwerkstatt in der Penton Street und war ein etwas griesgrämiger Herr mit einer scharfen Zunge.
»Ich habe die ganzen sechzehn Jahre bei ihm gearbeitet, und es kommt mir so einsam und trostlos vor, wenn ich in die Werkstatt gehen soll und er nicht dort ist.«
Sie hörte nicht mehr auf ihn, denn Marie kam gerade zur Tür herein.
17
John Morlay hatte sich hingesetzt und dachte über sich und seine Probleme nach. Seit drei Tagen war die Ausübung seiner Pflicht ziemlich leicht gewesen. Mrs. Carawood hatte ihn nicht angeläutet, seine Anwesenheit war also offensichtlich nicht gewünscht worden. Ein normaler Mann hätte eine solche Ruhepause begrüßt, besonders wenn er wie Mr. Morlay viel zu tun gehabt hätte. Es mußten Besprechungen mit Kunden abgehalten, Bilanzen durchgesehen, unehrliche Kassierer verfolgt werden.
Aber Morlay ärgerte sich darüber. Sooft das Telefon klingelte, schlug sein Herz schneller. Er hatte einen glücklichen Abend mit Marie verbracht, als er mit ihr ins Theater gegangen war. Wie das Stück eigentlich hieß und was auf der Bühne gespielt wurde, wußte er allerdings nicht. Das Schlimmste aber war, daß er zu den ungewöhnlichsten Stunden die Penton Street entlangwanderte. Einmal war er sogar um fünf Uhr morgens unter ihrem Fenster vorübergegangen. Und immer hatte er eine Entschuldigung für solche Extravaganzen. Vor langer Zeit hatte sein Doktor ihm einmal geraten, morgens vor dem Frühstück einen Spaziergang zu machen. Aber das war kein Grund dafür, sich nachts auf die gegenüberliegende Seite der Straße zu stellen und nach dem Licht in Maries Fenster zu sehen, wie das in der zweiten Nacht nach der Rückkehr von Ascot geschehen war. Was hätten wohl all seine ehrsamen Vorfahren gesagt, wenn sie das gewußt hätten! Das waren Leute gewesen, deren Liebesangelegenheiten sich in gewohnten Bahnen abgespielt hatten. Er hätte sich auch nicht vorstellen können, daß Onkel Percival oder Onkel Jackson im Mondlicht vor einem Laden spazierengingen, in dem alte Kleider verkauft wurden.
Dreimal hatte er Mrs. Carawood besucht, in der Hoffnung, Marie Fioli zu sehen. Aber er hatte Pech, jedesmal war das junge Mädchen ausgegangen. Einmal war sie im Konzert, einmal mit Julian Lester bei einer befreundeten Familie zum Tee. Morlay begann Julian mit einer Leidenschaft zu hassen, die er selbst nicht begreifen konnte. Und nun saß er da, stützte den Kopf in die Hände und ließ die Arbeit liegen. Nach einer Weile störte ihn ein Angestellter und meldete einen Besucher an.
»Was, ein Mönch?« fragte John überrascht. »Was will der denn? Lassen Sie ihn herein.«
Als der Fremde eintrat, kam John Morlay der Gedanke, daß er diesem Mönch mit dem langwallenden grauen Bart schon irgendwo begegnet sein mußte. Der Mann trug eine braune Kutte und einen härenen Strick als Gürtel, ging barhäuptig und hatte Sandalen an den Füßen. Plötzlich fiel Morlay ein, wo er ihn schon gesehen hatte. »Ach Pater Benito!« sagte er und reichte ihm die Hand. »Nun, ich scheine ja sehr bekannt zu sein«, entgegnete der Pater trocken. »Nein, danke, Mr. Morlay, ich möchte mich nicht setzen. Vielleicht gestatten Sie, daß ich auf und ab gehe, ich bin nämlich etwas nervös. Aber ich verspreche Ihnen, Sie nicht zu lange aufzuhalten.« Pater Benito war ein Franziskaner, dessen Predigten großes Aufsehen erregt hatten. Viele Leute waren in der Franziskanerkirche in Mayfair zusammengeströmt, und seine Angriffe auf
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