096 - Die Gräfin von Ascot
daß sein Arm fast nur aus Haut und Knochen bestand. Er mußte schwer krank sein. Vielleicht gelang es ihr, ihn zu beruhigen; vielleicht würde er freundlicher werden, wenn sie ihm zeigte, daß sie sich um ihn sorgte, und wenn sie ihn pflegte. Früher hatte er das nie verstanden und hatte es auch nie gewollt. Er war überrascht, als sie plötzlich in freundlichem Ton zu ihm sprach. »Joe, wenn ich es nun zugebe - was dann?«
»Was dann, was dann?« fragte er brutal. »Ist gar nicht nötig, daß du das zugibst. Ich wußte es gleich, als ich ihr Lachen hörte. Laß mich los, du alte Hexe! Ich werde mich jetzt meiner Tochter vorstellen!« »Sie sind doch schon fort!« schrie sie und taumelte zurück. »Ich will dir alles sagen, Joe, du sollst alles wissen, was du willst, aber sei ruhig. Ich will dir ja helfen - ich will dir alles geben.«
»Das mußt du wohl auch, du Kanaille«, brummte er und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
Wieder hoffte sie, ihn zu besänftigen.
»Joe, versuche doch einmal, mich zu verstehen. Ja, es ist unser Kind. Ich habe niemals einen Jungen gehabt, nur die kleine Marie! Und als ich wußte, daß ich niederkommen sollte, fürchtete ich mich vor dem Kind -ich wollte es nicht haben. Ich dachte daran, welch schreckliches Leben ihm bevorstand. Ich hatte mich immer verstecken und fliehen müssen, immer hatten wir schwere Sorgen, nirgends waren wir sicher. Sollte das so weitergehen?«
Er brummte, aber sie erkannte, daß sein Interesse geweckt war, obwohl er sie argwöhnisch betrachtete und jedes ihrer Worte prüfte, ob sie ihn auch nicht belog.
»Ich haßte in Gedanken das Kind, bevor ich es sah - und als es dann schrie und mich ansah und so klein war, schämte ich mich, daß ich mich so gefürchtet hatte, und ich liebte es ebenso heiß, wie ich es vorher gehaßt hatte. Aber ich gab mir das Versprechen, es anders zu erziehen. Es sollte nichts mit uns beiden zu tun haben.«
»Und mit welchem Recht hast du das Kind dem Vater vorenthalten?« Unheimliche Lichter flackerten in seinen Augen, und sie schrak wieder vor ihm zurück.
»Ich dachte an die Zeit, als wir heirateten und du versuchtest, ehrlich zu bleiben. Damals sagtest du mir, daß das unmöglich wäre. Erinnerst du dich noch daran? Es zog dich wieder dazu, zu stehlen und einzubrechen. Du kämpftest vergeblich dagegen, weil es dir im Blut lag. Dein Vater war im Gefängnis gestorben, und es blieb dir keine Hoffnung. Aber Joe, jetzt glaubte ich nicht mehr daran. Hättest du nie etwas von deinem Vater gewußt, dann hattest du ein ehrlicher Mensch bleiben können. Ich komme mir so seltsam vor, wenn ich daran denke, aber wir waren die ersten Wochen in unserer Ehe glücklich, als wir noch auf dem Lande lebten und du arbeitetest. Erinnerst du dich nicht mehr an das kleine Haus in Chean, wo du die schönen Blumen den Weg entlang pflanztest, der zu unserem Haus führte?«
Er schwieg. Ihre Worte hatten ihn herausgerissen aus der furchtbaren Gegenwart, und plötzlich wachte in ihm etwas auf, was verschüttet und vergessen schien.
»Aber dann kam dein Vater aus dem Gefängnis und zog dich wieder mit sich. Und trotzdem habe ich dich geliebt. lange Zeit.« Sie glaubte, daß sie ihn gerührt hatte. Vielleicht tat es ihm leid, daß sie ein so trauriges, hoffnungsloses Leben hatte führen müssen, aber der Eindruck dauerte nicht lange.
»Als du fort warst, hatte ich nur noch das Kind, das ich lieben konnte. Du weißt, welch harte Jugend ich im Findelhaus durchlebte. Ich habe nichts von Schönheit und Liebe kennengelernt, und ich war hungrig nach ein wenig Glück, nach ein wenig Romantik -«
»Ja, Romantik, das war ja immer deine Verrücktheit. Du hast immer nur geträumt, statt etwas Ordentliches zu tun.« »Glaubst du?« fragte sie und hob stolz den Kopf.
Hier in diesem Laden hatte sie sich bewährt; hier hatte sie gezeigt, daß sie nicht nur träumte und romantischen Ideen nachhing. Und hatte sie nicht Marie erzogen? War das nicht der beste Beweis für ihre Tatkraft und Energie?
Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Eine ganz andere Frau stand plötzlich vor ihm. Die Jahre hatten sie verändert.
»Ich entschloß mich, sie anders zu erziehen. Wenn ich sie bei mir behalten hätte, wäre es doch eines Tages herausgekommen. Es waren Fragen aufgetaucht. Entweder mußte ich dann sagen, daß sie ein uneheliches Kind war oder daß du der Vater seist. Und ich hätte ihr alles erzählen müssen. Sie hätte versucht, ein fehlerloses Leben zu führen, aber
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