096 - Die Gräfin von Ascot
taumelte, als sie hinausging, um etwas zu essen zu holen. Sie mußte sich anstrengen, um nicht umzusinken. Wenn sie auch eine andere Frau geworden war und sich nicht mehr durch ihn einschüchtern lassen wollte, war sie doch immer noch in seiner Gewalt. Er brauchte nur auf die Straße zu gehen und die Wahrheit hinauszuschreien. Könnte sie doch nur ein paar Stunden ruhig nachdenken - sicher würde sie dann einen Ausweg finden. Vielleicht hätte sie sich mit John Morlay in Verbindung setzen und seinen Rat einholen können. »Was ist aus deinem Kind geworden?« fragte er heftig, als sie mit einem Tablett zurückkam. »Du hast doch ein Kind bekommen, nachdem ich ins Gefängnis kam?« Sie zitterte.
»Ja - es war ein kleiner Junge.« »Das hat man mir im Zuchthaus erzählt. Du hast wohl niemals daran gedacht, daß ich als Vater das gern wüßte?«
»Er ist doch gestorben, nachdem er kaum eine Woche alt war. Konntest du etwas anderes erwarten nach all den Sorgen und all dem Kummer, die ich durchgemacht hatte?« fragte sie atemlos. »Ach, du und dein Kummer!«
Es kam ihr zum Bewußtsein, daß er nicht mehr bei Verstand war. Wahrscheinlich hatte ihn der lange Aufenthalt im Zuchthaus dem Wahnsinn nahe gebracht.
Für den Augenblick mußte sie ihn beruhigen, bis sich irgendein Ausweg zeigte.
»Es tut mir leid, ich habe nur Brot und Käse im Haus, Joe, aber ich kann dir Schinken und etwas Fleisch besorgen. Sie lassen mich in der Wirtschaft drüben sicher hinten zur Küche hinein. Ich will etwas holen, wenn du es wünschst.«
»Du wirst das Haus nicht verlassen«, sagte er argwöhnisch. »Erlaube dir bloß keine Tricks!«
Plötzlich lachte er laut auf, als er sich daran erinnerte, daß er ein freier Mann war und daß die Polizei der ganzen Welt ihm nichts anhaben konnte.
»Butter und Käse genügen mir«, erklärte er und begann mit einem wahren Heißhunger zu essen.
Blitze zuckten am Himmel und erleuchteten den Raum unheimlich mit fahlem weißem Licht. Der Donner rollte, daß die Mauern des Hauses bebten. Auch Joes Nerven wurden erschüttert, obwohl er es durch Flüche zu verdecken suchte. Dann erinnerte er sich plötzlich an den Auftrag, den er erhalten hatte - er sollte ja den schwarzen Holzkasten suchen und die Briefschaften herausnehmen. Er legte die Gabel nieder. »Ich muß dich etwas fragen -«, begann er.
Aber dann fuhr er zusammen, als draußen eine Autohupe ertönte. Mrs. Carawood kannte den Ton nur zu gut. Sie sprang zur Tür und sah durch die Scheiben, gegen die der Regen mit unverminderter Gewalt schlug. »Schnell, hinter die Holzwand, Joe!« rief sie ihm zu.
»Wer ist das?« fragte er eigensinnig. »Warum soll ich mich denn verstekken? Ich habe dir doch gesagt, daß ich ein freier Mann bin.« »Du weißt es nicht. Vielleicht sind deine Papiere doch nicht ganz in Ordnung. Nur für eine Minute.« Sie sprach unzusammenhängend, und ihre Furcht steckte ihn an. »Joe, um Himmels willen, es ist sicherer.« Der alte Instinkt, sich immer zu verstecken, überwältigte ihn, und er verschwand.
Mrs. Carawood öffnete die Tür - es war Marie, die vom Theater zurückkehrte.
24
Ihr Herz setzte aus zu schlagen, als Marie in dem Raum hin und her ging, und als das Kleid des jungen Mädchens die Holzwand streifte, hätte die Frau beinahe laut aufgeschrien.
»Was gibt's denn?« fragte Mrs. Carawood, indem sie eine Ohnmacht niederkämpfte. »Ist etwas geschehen?«
Marie hatte ihre Handtasche hier im Zimmer liegengelassen. Das war sehr wichtig, denn die Billetts für die Nachtvorstellung lagen darin. Außerdem enthielt sie ihr Taschentuch, etwa zwanzig Pfund in Banknoten und vor allem einen Brief von John Morlay, den er ihr geschrieben hatte und den außer ihr wohl niemand verstehen konnte.
»Was ist denn das für ein Fläschchen, Nanny?« fragte sie und nahm die Medizinflasche vom Kamin.
»Stell es sofort wieder hin!« rief Mrs. Carawood. Es schien ihr furchtbar zu sein, daß Marie etwas mit den Fingern berührte, was in Joes Taschen gewesen war. »Es ist - es ist Medizin.«
Gehorsam stellte Marie es hin und drehte sich überrascht um.
»Bist du denn krank? Warum hast du mir das nicht gesagt?«
Mrs. Carawood war am Tisch niedergekniet. Sie hatte die kleine seidene Handtasche entdeckt, die dort am Boden lag.
»Hier ist die Tasche!« sagte sie und reichte sie ihr.
Marie sah Mrs. Carawood ein wenig ängstlich an. Ihr seltsames Benehmen hatte sie stutzig gemacht.
»Ich bin durchaus nicht krank, Marie, es ist nur die
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