0963 - Der Verfluchte aus Atlantis
Trotzdem tat er diesen Job, denn er brachte ihm etwas ein. Nicht der Friedhof direkt, sondern das, was unter den Grabsteinen lag, denn damit kannte er sich aus. Außerdem mußte er sich etwas nebenbei verdienen, denn mit seiner Pension, die er als ehemaliger Totengräber erhielt, konnte er sich nichts erlauben. Abnehmer für seine »Funde«, auch zahlungskräftige, gab es genügend. Schon des öfteren hatte er für ein gut erhaltenes Skelett fünfhundert Pfund kassiert. Das war für ihn eine Menge Geld. Einzelne Knochen brachten natürlich weniger, aber es läpperte sich zusammen. Und Friedhöfe gab es im Großraum London genug.
Vor den Toten brauchte er sich nicht zu fürchten. Seine Furcht galt anderen Personen. Der Polizei.
Seine Tätigkeit hinterließ Spuren, und deshalb war sie auf ihn aufmerksam geworden. Man hatte ihn - den Unbekannten - auf die Fahndungsliste gesetzt und die Friedhöfe bewacht.
Jarrel und seine Leute versuchten, in einer Kneipe ihren Ärger zu ertränken. Erwischen lassen wollten sie sich jedenfalls nicht. Und jetzt, wo sie ein besonderes Grab im Auge hatten, sowieso nicht.
Nichts an ihm, auch nicht an dem Stein, deutete darauf hin, daß der Verstorbene einer Religion angehört hatte. Der Stein war neutral und trotzdem etwas Außergewöhnliches. Jarrel war gespannt, wer darunter begraben lag, und er hoffte, ein noch gut erhaltenes Skelett zu finden, das ihm viel Geld einbrachte.
Santer und Gordy, seine Helfer, mußte er ja auch bezahlen. Jeder war mit einem Fünfziger zufrieden. Als Tagelöhner waren sie es gewohnt, nach der Arbeit direkt ausbezahlt zu werden, und das hatte Jarrel immer eingehalten.
In dieser Nacht noch wollte Jarrel den großen Fischzug starten. Und sein Gefühl gab ihm recht.
Etwas ganz Besonderes würden sie finden.
Mut hatten sie sich ja jetzt angetrunken. Sollten die Bullen das Friedhofstor bewachen, es gab auch andere Möglichkeiten, das Gelände zu betreten.
Bullen, dieser Gedanke ging Jarrel nicht aus dem Kopf, als er wie ein unheimlicher Schatten durch den Regen stampfte und mit seinen Gummistiefeln immer wieder in tiefe Pfützen platschte. Er dachte daran, seine Nebentätigkeit zu verlegen. Raus aus London, hinaus aufs Land. Aufgeschoben war nicht aufgehoben.
Der Regen umrauschte ihn. Der Wind peitschte ihm die langen, kalten Schnüre ins Gesicht. Dicke Tropfen hämmerten auf den Regenmantel aus Gummi, den der einsame Mann trug. Die Kapuze hatte er übergestreift, doch er war naß darunter, als hätte er geduscht.
Der Friedhof war ein Refugium der Einsamkeit und des Todes. Die hohen Bäume wirkten wie knorrige Schatten, die ihre Arme ausgestreckt hatten, um die armen Seelen zu fangen, die aus den Gräbern stiegen.
Über diesen Aberglauben konnte der ehemalige Totengräber Jarrel nur lachen. Noch nie hatte er eine Seele zu Gesicht bekommen, obwohl ihm bei seiner Tätigkeit schon unheimliche Dinge passiert waren.
Er erinnerte sich nur ungern daran, daß sie zweimal fast einen Scheintoten begraben hätten. Kurz bevor der eine Sarg endgültig hatte geschlossen werden sollen, da hatte sich aus dem Mund des Toten ein Geräusch gelöst, das wie ein Rülpsen geklungen hatte. Die Familienmitglieder, die den Sarg umstanden, hatten sich zu Tode erschreckt. Eine Frau war sogar ohnmächtig geworden.
Beim zweiten Fall hatte der Tote mit den Augenlidern gezuckt. Das war dem Pfarrer nicht entgangen. Er war toten blaß aus der Nähe der Leiche geflohen.
Natürlich kannte Jarrel auch die Geschichten, die sich um Ghouls und Nachzehrer drehten. Das waren Geschöpfe, die sich von Leichen ernährten. In seinem Kollegenkreis spaßte man gern darüber, aber gesehen oder erlebt hatte James Jarrel noch keines dieser Wesen.
Die Dunkelheit der Nacht hatte ihn geschluckt. Er fühlte sich bereits als Teil des Friedhofs und bewegte sich mit immer schnelleren Schritten dem alten Teil entgegen, wo die Bäume noch dichter wuchsen, Strauchwerk regelrechte Hecken bildeten, die auch im Winter ihr Laub nicht verloren und entsprechend dicht waren.
Dort würde er seine Helfer treffen. Sie warteten an einem Platz, wo sich vier Bänke im Karree gegenüberstanden. Vom bewachten Tor wären das ein paar Minuten zu Fuß gewesen. Auf der Karte hatte Jarrel es ihnen genau eingezeichnet.
Noch bevor Jarrel den Treffpunkt erreichte, glaubte er, daß der Regen allmählich nachließ. Er klatschte nicht mehr so laut auf seinen Mantel, und tatsächlich war aus dem prasselnden Regen ein Nieselregen
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