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0965 - Die zweite Unendlichkeit

0965 - Die zweite Unendlichkeit

Titel: 0965 - Die zweite Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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»Was meinen Sie?«
    Der ältliche Exzentriker mit den Tweed-Klamotten und dem grau melierten Schnäuzer nickte in Richtung des Nichts, das sich jenseits der Scheibe vor ihnen erstreckte. »Die Unendlichkeit da draußen. Die Leere.«
    Sie standen direkt am Panoramafenster und schauten hinaus. Nicole war sich selten zuvor so klein und verloren vorgekommen, wie sie sich im Angesicht dieses bizarren Bildes fühlte. »Unendlichkeit?«, wiederholte sie. Dann nickte sie. Das Konzept mochte unpassend sein, weil ihm hier jegliche Fakten fehlten, doch es schien richtig. Angemessen.
    »Das menschliche Hirn ist für das Unendliche gar nicht ausgelegt«, sagte Smith leise und zwinkerte ihr zu. »Wir kennen es nur als Abstraktum, als Theoriemodell. Wir können es uns nicht vorstellen.«
    »Na ja«, warf sie ein. »Wenn wir davon ausgehen wollen, dass beispielsweise das All, aus dem Sie stammen, unendlich ist, hat die NASA vermutlich schon einen ganz guten Begriff von ihm. Oder?«
    »Verzeihen Sie meine Unkenntnis, aber von einer NASA habe ich noch nie gehört. Sollte es sich dabei jedoch um eine Weltraumforschungseinrichtung handeln, so versichere ich Ihnen, dass auch Ihre NASA nur mit Wasser kocht - besser gesagt mit Statistiken, Schätzungen und Annäherungen. Niemand auf Mutter Erde kann sich das Unendliche vorstellen, auch nicht mit aller Rechenkraft.« Er breitete die Arme aus. »Stellen Sie sich vor, Sie stünden in der Sahara. Sand, soweit das Auge reicht. Sand, soweit sie auch gehen. Und doch wissen Sie, dass die Wüste irgendwo ein Ende nimmt. Auch wenn Sie es nicht sehen. Richtig?«
    Nicole nickte.
    »Sie ist endlich. Ganz einfach. Sie mag Sie töten, aber sie ist endlich. Und nun stellen Sie sich vor, Ihre Aufgabe bestünde darin, jedes einzelne Sandkorn dieser Wüste zu zählen. Ohne Ausnahme. Wenn Ihnen schon die Wüste selbst unendlich vorkommt, wie unendlicher, wenn Sie mir den Wortscherz gestatten, muss erst die Menge ihrer Sandkörner sein? Und doch wissen Sie, dass auch diese Zahl eine endliche sein wird - ungeachtet ihrer Größe.«
    »Ihrer immensen Größe«, warf Nicole ein.
    Smith hob warnend den Finger. »Sehen Sie? Schon diese Zahl kommt Ihnen nahezu unfassbar groß vor - und das zu recht. Aber im Vergleich mit der Unendlichkeit ist sie ein Klacks! Aristoteles hatte sogar so viel Respekt vor der Unendlichkeit, dass er sich weigerte, sie als mathematisch ergründbar zu verstehen. Das Unendliche, so sagte er, müsse göttlich sein und sei somit auch allein der göttlichen Existenzebene vorbehalten. Alles, was Menschen beträfe - und komme es uns auch noch so immens vor - müsse endlich sein. Ob wir es erfassen oder nicht.«
    »Und doch bezeichnen Sie das dort als Unendlichkeit«, sagte Nicole und sah aus dem Fenster. »Aber widerspricht unser Werdegang nicht schon der Annahme von Unendlichkeit? Wenn Sie und ich aus unterschiedlichen Universen stammen und die NASA das Universum meiner Welt als unendlich auffasst - wie soll das gehen? Wie können mehrere allumfassende Dinge gleichzeitig unendlich sein?«
    »Ich bin auch nicht Aristoteles«, gab Smith schmunzelnd zurück. »Allerdings würde ich sogar einen Schritt weiter gehen als Sie, meine Teuerste.«
    »Inwiefern?«
    »In meiner Theorie sehen wir dort draußen nicht die Unendlichkeit, sondern eine Unendlichkeit. Eine parallele Weite, die fernab von dem existiert, was wir als logisch oder theoretisch begründbar verstehen.«
    »Eine zweite Unendlichkeit«, murmelte Nicole. »Das ist doch absurd. Zwei grenzenlose Räume - das widerspricht sich doch. Zwei Unendlichkeiten hießen quasi, dass jedes Ihrer Sahara-Sandkörner zweimal existieren müsse - und zwar an ein und demselben Ort. Das ist physikalisch unmöglich.«
    Smiths Lächeln war so strahlend wie der Sonnenaufgang über dem Loire-Tal. Es war offensichtlich, wie viel Freude dem alten Mann diese Gedankenspiele bereiteten. »Sind Sie mit den Werken Sir Arthur Conan Doyles vertraut?«
    »Sie meinen den Schöpfer von Sherlock Holmes?«, fragte Nicole überrascht. Was sollte denn dieser Themenwechsel?
    Smith seufzte erleichtert. »Schön zu hören, dass gute Literatur nicht nur auf ein Universum beschränkt ist«, murmelte er zufrieden. Dann fuhr er lauter fort. »Besagter Holmes ist vor allem für eine Aussage berühmt, wenn Sie mich fragen. Er sagte: ›Wenn wir alles Unmögliche ausschließen, so muss das, was übrig bleibt, und komme es uns noch so unwahrscheinlich vor, die Wahrheit sein.‹« Abermals

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