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0965 - Die zweite Unendlichkeit

0965 - Die zweite Unendlichkeit

Titel: 0965 - Die zweite Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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deutete er in das Irgendwo da draußen. »Wenn Sie mich fragen, Miss Duval, sehen wir hier Holmes' logische Maxime in Reinkultur. Ich kann Ihnen nicht beweisen, dass Sie und ich gerade in die Untiefen einer zweiten Unendlichkeit blicken, aber das kann niemand. Nicht einmal Charles Chaplin könnte das. Ich kann Ihnen nur sagen, dass mir alle Alternativen unmöglich erscheinen. Und der Rest erklärt sich, wenn Sie mich fragen, dann von selbst.«
    Chaplin ist in deiner Welt ein Wissenschaftler? Grundgütiger. Nicole schwieg, sah hinaus und ließ seine Worte in ihrem Kopf Revue passieren.
    Eine zweite Unendlichkeit. Ein Hier, das existierte, obwohl es überall schon ein anderes Hier gab. War nicht genau das das Prinzip paralleler Universen?
    Hinter sich hörte sie die anderen, Zamorra, die Campbells und Kyrgon, wie sie über irgendetwas stritten, das sicher überlebenswichtig war, im Vergleich mit allem, was sie hier vor Augen hatte, aber so banal anmutete wie ein Sandkorn in der Sahara.
    »Sie haben recht, Smith«, sagte sie leise und sah zu dem Mann von einem anderen Ganymed. »Es ist paradox.« Dann lächelte sie.
    ***
    Kyrgon kochte. Wieder und wieder hatte er versucht, sich aus dieser beschissenen Situation zu verabschieden, und jedes Mal war es ihm misslungen. Gründlich.
    Und genau das ist unmöglich , dachte er und knirschte mit Zähnen, die so wenig seinem eigentlichen Ich entsprachen wie der ganze Rest des Körpers, den aufzulösen er seit seiner Ankunft in diesem Irrenhaus nicht mehr imstande war. Es ist, als würde man einen Menschen bitten, zu atmen aufzuhören.
    Die Entkörperung war doch er . Er war der dunkle Dunst, der Schattenjäger, das Wesen, für das es nirgends Grenzen gab. Zeit seines Lebens hatte er es nicht anders gekannt, und obwohl er sich diese Eigenschaft, die ihn von allen anderen abgrenzte, nie hatte erklären können, hatte er sie sich zunutze gemacht. War Kyrgon geworden. Kyrgon der Schrankenlose. Der Immer-und-überall.
    Außer hier.
    Vor lauter Wut ließ er die Faust auf den Tisch sausen, der prompt zerbrach.
    Ben Campbell, der gedankenverloren auf der anderen Tischseite gesessen hatte, sprang erschrocken auf. Für einen kurzen Moment funkelte es bedrohlich in seinen Augen.
    Kyrgon entspannte sich. Aggression war ein Zustand, den er verstand. »Was, Kleiner?«, fuhr er den jungen Amerikaner an. »Hab ich dich erschreckt? Mache ich dir Angst? Willst du deine Uncle-Sam-Para-Scheiße gegen mich in den Ring werfen, ja?« Er breitete die Arme aus, winkte mit den Fingern. »Na, dann komm doch. Greif an, Kurzer. Ich bin hier.«
    Das Funkeln war längst wieder verschwunden, verdrängt von der Selbstbeherrschung, hinter der sich Ben - und das wusste Kyrgon so sicher, wie er seinen eigenen Namen wusste - versteckte. »Kein Interesse«, sagte Ben leise und machte einen Schritt zur Seite, als wolle er ihm ausweichen.
    »Lüge«, knurrte Kyrgon. »Du hast ein Problem mit mir. Seit wir uns begegnet sind. Ich bin kein Gedankenleser wie du, aber ich bin nicht blind. Sei wenigstens Mann genug, dazu zu stehen.« Abermals die winkende Geste. »Ich bin's.« Dann leckte er sich über die Lippen. Raubtierhaft. Gierig.
    Und bingo! Campbells Dämme brachen. »Sie?«, fuhr der Junge Kyrgon an. »Sie sind nichts weiter als ein Krimineller! Wie viele Leute haben Sie schon auf dem Gewissen, he? Wie viele Leichen pflastern Ihren Weg in 2045?« Mit jedem Wort wurde er lauter, anklagender. Es hatte etwas Befreiendes, ihn so ehrlich zu sehen. So wenig reserviert.
    »Jungchen, ich hab's euch schon einmal gesagt: Ich bin, was ich bin. Und ich wüsste nicht, warum ich mich deswegen entschuldigen sollte.«
    Ben schäumte nun geradezu vor Wut. »Beantworten Sie mir eine Frage, Kyrgon, ja? Würden Sie - wenn die Umstände anders und Ihre Fähigkeiten noch vorhanden wären - uns leben lassen? Würden Sie in uns nicht neue Opfer sehen?«
    Kyrgon schmunzelte.
    »Ehrliche Antwort, Mann«, drängte Ben, den Oberkörper angriffslustig vorgeneigt. Seine Hände zuckten. »Kommen Sie schon. Raus damit.«
    »Sie sind mir egal«, sagte Kyrgon ruhig. »Sie, Zamorra, Smith…« Dann grinste er böse. »Aber Ellie entspricht absolut meinem Beuteschema.«
    Er hatte den Satz kaum beendet, da stürmte Ben vor, packte ihn am Kragen und presste ihn gegen die nächste Wand. Hart schlug Kyrgon mit dem Rücken gegen die kalte Mauer. Der Schmerz war ungewohnt, und für einen Moment blieb Kyrgon die Luft weg. Doch er lachte, denn genau diese

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