0969 - Mandragoros Geschöpf
denn sie hatte ihren Eltern etwas vorgespielt und sich so verhalten, als wäre nichts geschehen. Kein Wort von dem Zusammentreffen mit IHM, dem Lebensretter.
Nur das Positive berichten und wie toll sie doch lebte.
Keine Bemerkung über die Hände des Mannes, die einem Wurzelwerk geglichen hatten. Sie hatte es geschafft, sich locker zu geben, die Geschenke überreicht und die Eltern somit abgelenkt.
Die selbstgebackene Pizza der Mutter schmeckte ihr noch immer so gut wie früher. Über den Rotwein, den sie dazu tranken, konnte Marion auch nicht klagen, und sie berichtete über ihr Leben.
Aber nur ihr fiel auf, wie hektisch sie dabei sprach. Außerdem war sie nicht so recht bei der Sache, denn während der Erzählungen glitten die Blicke immer wieder ab. Meistens zu den beiden Fenstern hin, als suchte sie nach einer Person, die von außen her durch die Scheibe in das Zimmer schaute.
Kurz vor Mitternacht meldete sich Emmy Kline ab. Sie war zu müde, aber Melvin blieb noch mit seiner Tochter am Eßtisch sitzen. Beide erreichte der Schein der Lampe, und der Vater studierte das Gesicht seiner Tochter sehr sorgfältig.
Marion fiel es schließlich auf. Sie fragte, wobei sie noch lächelte: »Was ist los? Habe ich etwas an mir?«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich finde, daß du sogar noch hübscher geworden bist.«
Sie behielt ihr Lächeln bei. »Ich kenne dich doch, Vater. Irgend etwas stört dich. Es bohrt in dir.«
»Ja, es stimmt.«
»Und es hängt mit mir zusammen.«
»Was ich nicht leugnen kann.«
»Dann raus mit der Sprache. Rede…«
Melvin Kline legte seine breite Stirn in Falten. Sein Gesicht sah plötzlich älter aus, auch deshalb, weil Sorgenfalten seine Haut durchfurchten. »Du machst es mir nicht leicht, Kind, wirklich nicht, und ich weiß auch nicht, ob ich das Recht dazu habe, dich darauf anzusprechen. Möglicherweise liege ich falsch, aber mir kommt es vor, als hättest du dich stark verändert.«
Marion staunte ihn an. »Dad«, erwiderte sie nahezu beschwörend. »Natürlich habe ich mich verändert. Es wäre ja merkwürdig gewesen, hätte ich dies nicht getan. Jeder Mensch verändert sich, das weißt du. Ich bin älter geworden. Mein Job hat mich geprägt und…«
»Das weiß ich alles, Marion, aber das ist es nicht, was ich damit meine.«
»Nein?« wunderte sie sich. »Was denn?«
»Es geht mir um dein Verhalten.«
»Hm.« Sie lehnte sich zurück und trank rasch zwei Schlucke Rotwein. Als sie das Glas wieder auf den Tisch stellte, erkundigte sie sich, was ihn denn daran störte.
»Es ist nicht einfach zu sagen«, gab Melvin zu. »Aber mir kam dein Benehmen ein wenig aufgesetzt vor.«
»Aufgesetzt?«
»Ja.«
»Wie meinst du das?«
Er hob die Schultern. »Genau kann ich dir das nicht sagen, da muß ich schon meinem Gefühl vertrauen. Du hast viel erzählt, du hast auch schnell gesprochen, das ist alles okay, aber mir kam es vor, als würde dir dabei die innere Ruhe fehlen. Nimm es mir nicht übel, aber das habe ich tatsächlich gedacht.«
Marion atmete durch die Nase und lauschte dabei dem schnaufenden Geräusch. »Innere Ruhe«, wiederholte sie leise. »Ich weiß wirklich nicht, was du damit meinst.« Natürlich weiß ich es, dachte sie. Er hat gemerkt, daß ich mit etwas zu kämpfen habe. Es ist ihm nie etwas verborgen geblieben, auch früher nicht, in meiner Kindheit. Und das hat er bis heute nicht abgelegt, ich spüre es.
»Du bist so schweigsam, Marion.«
»Das weiß ich.«
»Weil ich recht habe?«
Jetzt mußt du lügen! schoß es ihr durch den Kopf. Aber du mußt auch gut sein. »Jeder hat seine Probleme - klar. Mein Job ist verdammt stressig. Ich werde gehetzt, ich bin viel unterwegs, und obwohl es mir Spaß macht, ist es sehr anstrengend.«
Melvin hob die Hand. »Weißt du, Marion, so meine ich das nicht. Es gibt da andere Dinge, die mich stören.« Er redete sofort weiter, weil er sich durch Gegenfragen nicht aus dem Konzept bringen lassen wollte. »Da ist dein nervöses Verhalten. Du hast immer wieder zu den Fenstern geschaut, als würde dort jemand erscheinen oder uns bereits beobachten. Du bist nervös, Marion. Etwas steckt in dir, das ich nicht mit deiner Arbeit erklären möchte. Es hängt mit diesem Ort hier zusammen.« Er klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Hiermit. Mit uns, mit deinem Elternhaus.«
»Meinst du?«
»Ja, das meine ich.«
»Dann liegst du falsch.«
Marion erhielt darauf keine Antwort. Statt dessen fragte der Vater sie: »Erinnerst du dich
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