097 - Das Dämonenbuch
letzter Zeit ziemlich dick geworden. Schwammig und wabbelig das Gesicht mit der viel zu kleinen Nase, umrahmt von schütterem blondem Haar, das sich schon weit über die hohe Stirn zurückzog.
Ben Russel hatte sich noch nie gefallen. Schon als Kind nicht. Damals hatten die Schulkameraden ihn ›Qualle‹ gerufen, weil er so fett und aufgedunsen war.
Später hatte er dann mit fast unmenschlicher Energie seine überquellenden Körpermaße bekämpft und hatte gesiegt. Er war schlank und rank geworden, obwohl er auch später stets zur Fettsucht neigte.
Jetzt ließ er sich wieder gehen. Jetzt war ihm sein Aussehen nicht mehr wichtig. Es war ihm auch nicht mehr wichtig, dass sein früherer Spitzname mit der Zeit wieder zutreffender wurde: Qualle.
Der Finanzmakler strich sich mit seinen behandschuhten Händen über die Haare und rückte die Krawatte zurecht. Dann schloss er die Schrankwand wieder.
Am Schreibtisch schlug er das Buch sorgfältig in die gleiche Zeitung ein, in der er es hierhergebracht hatte. Nur zufällig fiel sein Blick auf die Kopfleiste am oberen Rand des Blattes.
24. November 1960.
Sein Geburtstag.
Das konnte jetzt kein Zufall mehr sein. Ben Russel schaute wie betäubt auf das Paket hinunter.
Dann erfasste ihn eine fieberhafte Unruhe.
Ben Russel klemmte sich schnell das Paket unter den Arm und verließ sein Büro. Angestellte, die ihn begrüßten, sah er nicht einmal. Er fühlte sich erst wieder wohler, als er seinen BMW aus der Tiefgarage unter dem Bürohochhaus auf die Straße steuerte.
Er wollte nach Hause. Er wollte in sein Landhaus. Aber etwas in ihm trieb ihn, den kleinen Umweg über die Baker Street zu nehmen.
Die Baker Street war eine Einbahnstraße. Auf dem Herweg in seine Firma benützte er sie meistens, doch jetzt musste er einen ganzen Block umrunden, um wieder in diese Straße zu kommen.
Er durchfuhr sie ganz langsam, vergaß keinen einzigen Schriftzug über den Geschäften zu lesen.
Das Haus war noch dasselbe. Ein roter Backsteinbau. Vielleicht so alt wie er selbst. Die Front stimmte. Er wusste genau, dass er am Vormittag dieses Haus betreten hatte, als er in den Buchladen ging. Es war das einzige Backsteingebäude in der Baker Street.
Aber es war ein leer stehendes Gebäude. Da gab es kein Buchgeschäft. Jedenfalls schon lange nicht mehr.
Denn das Haus war eine Ruine. Es musste vor Jahren abgebrannt sein.
Ben Russel griff auf den Sitz neben sich. Doch das Buch Sratnaros lag nach wie vor neben ihm.
Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, es müsste wieder verschwinden, sich in Luft auflösen.
Doch es lag da. Eingewickelt in den ›Evening Standard‹ vom 24. November 1960.
»Habt Dank, ihr Geister«, flüsterte Ben Russel tonlos. »Ich werde mich eurer würdig erweisen…«
Ben Russel hatte keine Ahnung, wofür er sich hier bedankt hatte.
***
Der BMW rollte in die gepflasterte Einfahrt hinein, nachdem sich auf ein Funksignal hin die breite Flügeltür des Gatters geöffnet hatte.
Ben Russel fuhr den Wagen in die Garage und parkte ihn neben einem schwarzen Cadillac, der ihm neben zwei europäischen Sportwagen auch noch gehörte.
Seine Frau Joan kam nur selten auf den Landsitz heraus. Sie bevorzugte die Stadtwohnung in der Nähe des Times Square. Ben Russel hatte mit seiner Frau eine Art gentleman agreement getroffen: Sie störte ihn hier nicht, und er ließ sie in der Stadtwohnung in Ruhe.
Russel kletterte aus dem Wagen, schloss per Knopfdruck die Garage und ging mit seinem Paket auf das Haus zu.
Es wurde ihm geöffnet.
James Masterson, der Butler, hatte ihn kommen sehen.
»Guten Morgen, Sir«, näselte er.
»Morgen, James«, sagte Ben Russel. »Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal Urlaub gemacht?«
»Ich pflegte bisher auf einen so genannten Urlaub zu verzichten«, antwortete James steif.
»Dann wird es höchste Zeit für Sie«, meinte Russel. »Sie haben doch eine Schwester in Cornwall. Besuchen Sie die oder gehen Sie auf der Promenade von Southampton spazieren. Tun Sie irgendwas, aber tun Sie es nicht hier in London. Ich wünsche, dass Sie noch heute dieses Haus für eine Woche verlassen. Ich will vollkommen ungestört sein. Sagen Sie auch dem Stubenmädchen und der Köchin Bescheid. Geben Sie den beiden je einen Monatslohn Urlaubsgeld und sagen Sie ihnen, sie sollen ebenfalls heute von hier verschwinden und erst frühestens in einer Woche wiederkommen.«
»Aber Mr. Russel…«
»Seit wann pflegen Sie zu widersprechen?« äffte Russel James’
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