0979 - Der Totenhügel
Zehnjährigen. Es war als Hängerchen geschnitten, viel luftiger als die Jeans und das T-Shirt mit der Comicfigur, die Lilian auszog und auf das Bett legte, wo auch Oscar, ihre Puppe, lag.
Sie liebte Oscar, denn er sah aus wie eine Mischung aus Igel und Clown. Der Körper bestand aus Stoff und hatte eine weiche Füllung. Das Gesicht zeigte durch den breiten Mund ein freundliches, wirklich clownhaftes Aussehen. Hinzu kamen die hellblauen Augen, die übergroß gemalt waren.
Oscar war eigentlich männlich, doch Lilian hatte der Puppe ein kurzes, blaues Kleid übergestreift und ihr rotweiße Leggings angezogen. So war Oscar für sie ein Neutrum, das sie schon über Jahre hinweg liebte und auch immer mitnahm, wenn sie wegfuhr.
Das Mädchen knöpfte sein Kleid zu, nahm Oscar in die linke Hand und verließ das Zimmer.
Vor dem Spiegel blieb sie stehen. Er war groß und hing im Flur des Hauses. Zuerst hatte sie sich immer vor der Umgebung gefürchtet, weil ihr Onkel dort Bilder aufgehängt und Gegenstände aufgestellt hatte, die ihr nicht gefallen konnten, denn sie stammten aus anderen Teilen der Erde. Da waren Statuen zu sehen, die schlimme Gesichter hatten. Auch Masken hingen an den Wänden. In der Dunkelheit oder bei nur wenig Licht sahen sie aus, als würden sie leben, und davor fürchtete sich das Mädchen noch immer. So schnell konnte es sich einfach nicht ah den Anblick gewöhnen.
Sie schniefte. Das Haar gefiel ihr nicht. Vielmehr die Frisur. Zwar hingen die Zöpfe rechts und links des Kopfes, aber auf dem Scheitel selbst standen noch zu viele Haare ab, und das mochte sie nun gar nicht. Sie strich mit der Hand zweimal darüber hinweg, aber die Haare stellten sich immer wieder hoch. Manchmal war Lilian eben pingelig. Ihre Mutter sagte dann immer »Typisch Mädchen.«
Ein nettes Mädchengesicht schaute sie an. Freundliche Augen, Pausbacken, ein kleiner Mund, eine Stirn, auf der sich Sommersprossen verteilten.
Ein schlechtes Gewissen überkam sie schon, als sich Lilian vom Spiegel wegdrehte. Eigentlich hätte sie ja im Haus bleiben und später ins Bett gehen sollen, aber sie hatte sich eben anders entschieden.
Sie wollte das Haus verlassen, bis zum Wald gehen und dort stehen bleiben. Es war ihr Ort, ihre liebste Stelle, denn von dort hörte sie immer wieder den seltsamen Ruf.
Ihr Blick streifte über die dunklen Statuen und auch an den Masken entlang. Sie fühlte sich beobachtet. Als wollten die Masken jede Bewegung von ihr genau kontrollieren, um später der Tante sagen zu können, was hier geschehen war.
Lilian drohte ihnen mit dem Finger. »Ihr dürft nicht petzen. Wenn die Tante zurückkommt, bin ich wieder da…«
Die Masken schwiegen. Aber in den leeren Augenhöhlen hatte sich etwas Unheimliches eingenistet, und das Kind war froh, endlich das Haus verlassen zu können, um der Kontrolle durch die Masken zu entfliehen.
Wenn sie mal erwachsen war, würde sie nie so etwas sammeln, das hatte sie sich schon vorgenommen. Nur schöne Dinge, nichts anderes. Puppen vielleicht, das wäre toll gewesen, aber sonst…
Draußen atmete sie durch. Es war noch nicht viel dunkler geworden. Die Luft erinnerte sie an grünliches Glas, das vom Himmel gefallen war und nun die Erde wie eine große Glocke bedeckte, durch die sie gehen konnte.
Weiter vorn lag der Wald. Eine dunkle Insel, die sich vom Boden her in das Grün hineinschob. An den Bäumen bewegte sich kein Blatt, denn der Wind hatte sich zurückgezogen. Er war eingeschlafen, und nur die Geräusche der eigenen Schritte durchbrachen die Stille.
Der Wald lockte sie nicht, sondern eher das, was hinter ihm lag. Ein besonders schöner Hügel. Er sah aus, als wäre er künstlich geschaffen worden, aber das war er nicht. Sie hatte ihren Onkel Sidney nach ihm gefragt und erfahren, dass es den Hügel schon seit Urzeiten gab und er etwas sehr Geheimnisvolles barg, über das der Onkel trotz mehrmaliger Nachfrage aber nicht hatte sprechen wollen.
Sie wusste nur, dass er öfter zu diesem Hügel hingegangen war und er möglicherweise auch die zahlreichen Kerzen dort aufgestellt hatte, die auf der Kuppe des Hügels standen.
Lilian hatte die Dochte nie brennen sehen, aber sie mussten schon gebrannt haben, sonst wären sie nicht schwarz gewesen. Sie selbst traute sich nicht, auch nur eine Kerze anzuzünden, weil man sie vor der Gefahr eines Waldbrandes gewarnt hatte und sie diese Warnungen auf keinen Fall in den Wind schlug.
So ging sie weiter und schaute zu, wie der Saum des
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