098 - Horrortrip ins Tal der Toten
schlug soviel drauf, wie ihm HORROR-TOURS beim Übernachtungspreis heruntergehandelt hatte.
„Frieren Sie nicht?“ fragte Madeleine.
„Ich bin abgehärtet.“
„Natürlich, wie konnte ich nur fragen.“
„Sie mit Ihrem flotten Mäulchen.“ Sie kuschelte sich tief in seine Jacke.
„Madeleine, was ich fragen wollte…“ „Ja?“
„Kurz vor dem Abendessen – haben Sie vielleicht etwas erlebt, was … nun, sagen wir: etwas Unerklärliches?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Mir erging es so. Mein Tischnachbar, Monsieur Roussand, erzählte, ihm sei etwas Seltsames…“
Er sprach nicht weiter.
Niemand redete weiter.
Madeleine fuhr zusammen, als hätte sie jemand mit der Peitsche geschlagen.
Henry atmete langsam aus. Jetzt schon? Was er den Schauspielern gesagt hatte – na ja, sie improvisierten, und der Augenblick war nicht übel gewählt.
„Um Himmelswillen! Das klang ja fürchterlich“, flüsterte Madeleine.
„Es war eine Frauenstimme, soviel habe ich gehört. Kann also nur Brigitte Moulin gewesen sein. Wenn sie immer die gleiche Wirkung erzielt, war das kein schlechter Griff und…“
„Ich war es leider nicht“, sagte jemand aus der Dunkelheit.
„Mademoiselle Brigitte?“ fragte Henry.
Aus der Finsternis huschte sie heran. Im ersten Moment hätte sich auch Henry fast erschrocken.
Brigitte trug ein schwarzes Trikot,
auf das man mit Leuchtfarbe ein Skelett gemalt hatte. Ihr Gesicht war auf Leiche geschminkt, ebenfalls mit Leuchtfarben, grünlich-weiß, hohlwangig, mit phosphoreszierenden Lippen und schwarzen Augenhöhlen.
Was den Anblick perfekt machte, war die Mimik. Eine Maske bleibt starr. Aber wenn Brigitte Mund und Kiefer bewegte, kam unheimliches Leben in das Totenschädelgesicht.
„Ich bin schon eine ganze Weile unterwegs. Ich suche die jungen Leute, die im Schloß herumschnüffeln. An einer Mauer habe ich mir den Kopf angestoßen, ich brauche ein Aspirin. Eben wollte ich …“
„Sie haben also nicht geschrien“, sagte Henry rasch. „Dann wartet hier!“
Ohne Erklärung lief er davon.
Eine Frau hatte geschrien. Kein Zweifel. Also ein Gast. Wäre sie von einem der anderen Schauspieler erschreckt worden, hätte es danach irgendeine Reaktion gegeben. Befreiendes Lachen. Einen Scherz. Selbstironischen Kommentar der eigenen Schreckhaftigkeit. So reagiert die Natur, um den Schock abzuflachen.
Aber dieser Schrei! Dieses Entsetzen! Und dann die beklemmende Stille!
Über das bucklige Pflaster rannte Henry zum Tor. Von dort war der Schrei gekommen. Er hegte schlimme Befürchtungen. Hinter dem Tor fielen die Wände der Auffahrt steil und ungesichert in die Tiefe hinab.
Das fehlte noch, daß schon am ersten Abend etwas passiert!
Henry spürte die Mauer.
Er sah sie nicht, aber ihr Geruch kam ihm entgegen: feucht, uralt, ein schwacher Duft von Salpeter.
Das Tor? Weiter rechts! Ah, der graue Fleck. Besser, ich rufe.
Schon öffnete er den Mund, als sein Fuß auf was Weiches trat.
Ein Mensch! Das spürte er sofort. Louise Vichet?
Mein Feuerzeug! Verdammt, wo?
Er beugte sich über sie.
„Mademoiselle?“
Was ihm in die Nase stieg, war der Duft junger Haut und die Süßlichkeit von Blut.
Er rührte sie an. Seine Hand spürte Klebriges. Endlich fand er das Feuerzeug. Vom Tor her pfiff der Wind. In der Aufregung hielt er das Feuerzeug so ungeschickt, daß die Flamme nach dem Bruchteil einer Sekunde in der Zugluft erlosch. Was er gesehen hatte…
Unmöglich! Er fühlte, wie sich ihm die Haare sträubten. Ich spinne schon!
Schnipp! Diesmal schirmte er die Flamme mit der Hand ab.
Es war Louise Vichet, der Teenager, etwa 19, blond, ehemals mit Kulleraugen. Flackernder Schein fiel auf ihr Gesicht.
Das Blut gefror ihm in den Adern.
Eine Bestie hatte Louise die Kehle durchgebissen, ihr faustgroße Stücke aus dem Hals gerissen. Namenloses Entsetzen stand in dem toten Gesicht.
„Nein!“ kreischte eine Frauenstimme. „Neiiiiiiin! Was machen Sie denn? Ich… Hiiiiil…“
Das kam vom Ritterhaustor, der Verbindung zwischen Haupt- und Nordhof. Henrys Erstarrung wich. Denken konnte er nicht. Zeit für eine Erklärung war später. Noch eine Frau in Not? Er wollte aufspringen.
Im selben Moment spürte er, daß etwas hinter ihm stand. Ein Mensch? Mit der Zugluft kam der Geruch.
Unbeschreiblich! Wie ein Kadaver, in dem die Maden schon wimmeln.
Hart schlug etwas auf Henrys Arm. Schmerz zuckte bis in die Fingerspitzen. Das Feuerzeug fiel zu Boden und erlosch.
Henry warf sich zur
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