098 - Horrortrip ins Tal der Toten
Wir müssen hier bleiben. In der Dunkelheit ist die Suche aussichtslos.“
Als sie den Rittersaal betraten, hatte sich nicht viel verändert. Das Feuer war erloschen. Zwei Kronleuchter brannten. Aber ihr Licht strahlte zur Decke. Die untere Hälfte des Saals war in Halbdunkel getaucht.
Man saß wieder um die Tafel.
„Eins muß man Ihnen lassen, Monsieur Dayton“, rief Felix Roussand, der Facharzt für Alterskrankheiten. „Wenn Ihr Unternehmen im Prospekt Horror verspricht, dann erfüllen Sie das wirklich. Passiert ist ja noch nicht viel. Aber die Schreie vorhin…
Das klang so beängstigend! Sehen Sie uns an“, er deutete in die Runde, „niemand fehlt. Alle haben sich Hals über Kopf in Sicherheit gebracht.“ Er lachte. „Wenn es noch schlimmer kommt, muß ich vorzeitig abreisen. So gut sind meine Nerven leider doch nicht mehr.“
Henry ging zum Kopfende der Tafel. Daß er die Flinte unter dem Arm trug, wurde ihm gar nicht bewußt.
Sein Herz pochte. Wie sollte er den Leuten diesen grauenvollen Doppelmord erklären? Er wußte ja selbst nicht, was vorging.
„Meine Damen und Herren“, er räusperte sich, „bitte, bewahren Sie jetzt Ruhe! Behalten Sie die Nerven! Was ich Ihnen mitteile, ist Wirklichkeit. Kein Gag unseres Horror-Programms, obwohl es sich so anhört. Nicht alle, die heute hier ankamen, sind jetzt in dieser Runde. Madame Dubois und Mademoiselle Vichet fehlen.“
Er machte eine Pause. Jemand in seiner Nähe sagte: „Tatsächlich! Fällt mir jetzt erst auf. Dabei saß Madame Dubois beim Essen neben mir.“
„Beide“, Henry zögerte mit dem Worten, „wurden eben ermordet.“
Stille. Einige Gäste starrten ihn fassungslos an. Ein langmähniger Blondschopf mit schütterem Haar grinste. „Und das soll kein Gag sein? Finde ich gut! Aber Sie hätten nicht gleich zwei nehmen sollen. Wirkt unglaubwürdig. Nur eine – vom Schloßgespenst erwürgt! Und sobald wir richtig zittern, spaziert sie dann unversehrt herein.“
Der Blonde war nicht mehr zu bremsen. Er stand rasch auf. Zur Tür gewandt, rief er: „Mesdames, Sie können hereinkommen. Dieser Horror-Gag hat nicht geklappt.“
„Setzen Sie sich!“ fuhr ihn Henry an.
„Na, hören Sie…“
„Mann, es ist kein Spaß! Schalten Sie endlich! Was glauben Sie, weshalb ich das Gewehr rumschleppe? Der Täter – es können auch mehrere sein. Ja, wahrscheinlich sogar! Wilde Tiere! Bestien! Die beiden Frauen wurden zerfleischt, ja, buchstäblich angefressen.“
Nach einer kurzen Pause sagte Roussand: „Schwören Sie, daß es sich wirklich um keinen HORROR-TOURS-Scherz handelt. Er wäre ziemlich geschmacklos.“
Wie ein Hammer schlug Henrys Faust auf die Tafel. „Kapieren Sie doch endlich! Wir sind alle in Gefahr. Ich weiß nicht, wo die Bestien lauern. Weiß nicht, wer sie sind, wie sie aussehen. Auch im Dorf unten wurde jemand umgebracht. Wir hörten den Todesschrei.“
Eine junge Frau sprang auf, fiel auf den Sitz zurück und krampfte die Hände ineinander. Weit hinten an der Tafel kreischte jemand. Der Blonde von eben stieß einen Schreckensruf aus, klappte aber rasch den Mund zu, als schäme er sich. Sonst keine Reaktion.
Jede andere Reisegruppe hätte sich in ein Netz von Panik und Hysterie verstrickt. Aber hier waren Leute zusammen, denen Horror verkauft wurde. Jetzt hatten sie ihn. Und mehr als vereinbart.
Roussand kam zu Henry. Offenbar hielt er es für unangebracht, durch den halben Saal zu rufen.
„Dann, Monsieur Dayton, haben die beiden vorhin geschrien?“
Henry nickte. Er berichtete leise und fügte hinzu: „In der Dunkelheit werden wir Louise Vichet nicht finden – falls von ihr überhaupt noch was übrig ist. Aber die sterblichen Reste von Madame Dubois können wir bergen, ehe die Bestie zurückkommt. Freilich möchte ich nicht, daß außer uns jemand die Leiche sieht. Vielleicht können Sie als Arzt anhand der Bißwunden feststellen, um welche Gattung Tier es sich handelt.“
„Hm, ich bin zwar kein Zoologe, aber selbstverständlich komme ich mit.“
Henry wandte sich an die andern. „Alle bleiben hier. In der Dunkelheit können wir ohnehin nicht viel unternehmen. Herr von Laydell telefoniert mit der nächsten Polizeistation. Sobald die Beamten hier sind, wird man das Gelände absuchen. An eine Fortsetzung der HORROR-TOURS ist unter diesen Umständen natürlich nicht zu denken. Spätestens morgen abend wird wohl der Bus eintreffen, mit dem Sie die Heimreise antreten. Die gesamte Buchungsgebühr wird
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