0983 - Die Schamanin
Zeit hast du doch - oder?«
»Wie man’s nimmt.«
»Oder wartet jemand auf dich?« Sie hatte die Frage schnell gestellt. Wie jemand, der die Antwort schon kannte, und sie schaute Bill scharf dabei an.
»Eigentlich nicht.«
»Du lügst!«
»Wieso?«
»Ich weiß, daß jemand auf dich wartet, und ich werde dir gleich den Beweis liefern.«
Die Antwort hatte Bill nicht gefallen. Er fühlte sich in die Defensive gedrängt.
Die Frau war gefährlich. Sie wußte mehr, als sie zugab, denn sie schaute hinter die Dinge wie jemand, der ein drittes Auge hat. Der Reporter dachte an Ortiz, den er zurückgelassen hatte. Imelda hatte ihn zwar nicht namentlich erwähnt, aber indirekt schien sie schon Bescheid zu wissen. Er hatte den Mann nicht erwähnt, und es ging ihm nicht mehr so gut.
»Du sorgst dich?«
»Möglich.«
»Es wird nicht mehr lange dauern, mein Freund«, sagte sie mit erhobener Hand, »dann bekommst du die Antwort.«
»Aber nicht durch dich.«
»Nein, nicht durch mich. Durch jemand anderen. Du hast ihn schon gesehen, Bill.«
Er war gespannt, aber er sagte nichts. Innerlich fühlte er sich aufgeputscht.
Manchmal rieselte es auch kalt seinen Rücken hinab.
Wieder war der Schatten da. Er kannte ihn, und über seinem Kopf hörte er einen krächzenden Schrei, als würde jemand unter entsetzlichen Qualen leiden.
Bill schaute unwillkürlich hoch. Seine Muskeln krampften sich zusammen.
Der Schatten nahm Gestalt an, er hörte das heftige Flattern von Flügeln, dann huschte der Rabe heran, senkte sich dem Boden entgegen und landete auf Imeldas Knien.
Auch als er die Flügel zusammengefaltet hatte, fiel Bill auf, wie groß er war. Einfach übergroß. Da konnte ein normaler Rabe nicht mehr Schritt halten. Imelda streichelte seinen Schnabel und das Gefieder. Sie war zu ihm wie eine Mutter, und sie sprach mit leiser Stimme auf das Tier ein.
Der Rabe blieb stumm, aber er sah anders aus als zuvor. Irgend etwas hatte sich bei ihm verändert, das bemerkte auch Bill. Leider war es zu dunkel, um alles genau erkennen zu können, aber Imelda half ihm dabei, denn sie reichte die Hand und ihren Arm über den Tisch hinweg, drehte die Hand dann, so daß Bill auf die Fläche schauen konnte, die an bestimmten Stellen naß und dunkel war.
Imelda hielt die Augen weit offen. Die Pupillen sahen aus wie dunkle Ölpfützen.
»Weißt du, was das ist?« flüsterte sie.
»Nein, aber…«
»Du kannst es dir denken, wie?«
»So ähnlich.«
»Es ist Blut«, sagte die Frau. »Mein Freund ist unterwegs gewesen. Corvatsch ist ein guter Wächter. Er achtet darauf, ob jemand mit falschen Karten spielt.« Auf ihren Lippen malte sich allmählich ein wissendes und auch hinterlistiges Lächeln ab, das Bill einfach nicht gefallen konnte. Er ahnte, daß mehr hinter dieser Person steckte, besonders hinter deren Bemerkungen. »Du bist nicht allein gekommen, Bill. Da ist noch jemand gewesen.«
»Ja, jemand, der den Weg kannte.«
»Siehst du?«
»Aber ich habe ihn nicht mitgebracht. Er wartet auf mich genau dort, wo die Straße beginnt.«
»Das weiß ich. Nur irrst du dich. Er hat dort auf dich gewartet. Schau dir meine Hand an. Weißt du, was es ist?«
»Sicher«, gab Bill mit leiser Stimme zu. »Ich kann es mir schon denken.«
»Blut!« erklärte sie mit rauh klingender Stimme. »Das hier ist Blut. Aber es ist nicht mein Blut, sondern das Blut des Menschen, der auf dich gewartet hat. Mein Rabe Corvatsch hat ihn angegriffen. Er mochte ihn nicht. Er will mich beschützen. Ich hatte ihm den Befehl erteilt, sich umzuschauen.«
»Was ist mit Ortiz?« fragte Bill. Er umklammerte mit beiden Händen die Stuhllehnen.
»Tot«, erklärte Imelda. »Er ist tot.«
Bill schloß für einen Moment die Augen. Er wollte und konnte es nicht begreifen, deshalb schüttelte er auch den Kopf. »Warum denn tot? Was hat er dir getan?«
»Mir nichts. Corvatsch wollte ihn nicht. Er ist sehr eigen. Ich kann ihn nicht immer unter Kontrolle halten. Wenn er etwas nicht will, muß man das akzeptieren.«
»Und er hat ihn getötet?«
»Das weiß ich nicht genau. Er hat ihn zumindest angegriffen und auch verjagt.« Imelda lächelte den Raben an. »Du bist ein braver Wächter. Du bist wirklich ein guter Aufpasser. Ich kann mich immer auf dich verlassen.«
Bill beobachtete die Szene, ohne etwas zu sagen. Er wollte auch nicht mehr denken, das aber kam automatisch, denn plötzlich machte er sich Vorwürfe, daß es vielleicht doch nicht so gut gewesen war, nach Haiti auf
Weitere Kostenlose Bücher