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0985 - Libertys Tränen

0985 - Libertys Tränen

Titel: 0985 - Libertys Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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alles, wie es ist, und der nächste Kutter hat vielleicht weniger Glück. Sieht nicht gerade so aus, als würde sich der Nebel bald verziehen.«
    Das war ein Argument, dem Jer sichtlich nichts entgegenzusetzen hatte. Er versuchte es trotzdem. »Aber warum denn wir? Von mir aus rufen wir die Jungs und Mädels von der Coast Guard. Sollen die sich doch mit den Bonzen herumärgern.«
    Stan schüttelte den Kopf. Je länger er darüber nachdachte, desto schlechter fand er die Idee. »Bis die hier sind, dauert’s sicher zwanzig Minuten, wenn nicht länger.« Die Guard befand sich neben dem Battery Park am unteren Ende Manhattans. Bis hier hinauf zur Bronx waren es also einige Seemeilen. »Und ich weiß sicher, dass Jim, Ellie und die anderen nicht mehr lange auf sich warten lassen. Spätestens in einer Viertelstunde ist die gesamte Krabbenfischer-Gemeinde City Islands hier draußen unterwegs.« Und kämpft um das Wenige, was die Bay ihr noch bietet …
    Jer fuhr sich hilflos mit der Hand über das Gesicht. »Was wäre, wenn wir sie anfunken? Ihnen sagen, dass sie einen Bogen um diese Koordinaten machen sollen?«
    »Die Libertys Tränen treibt führerlos, Jer. Da nützen Standortangaben wenig. Nein, ich bin dafür, auf Nummer sicher zu gehen. Die Jacht muss hier weg. Schnellstens. Und da wir direkt neben ihr sind…« Er lächelte, obwohl auch ihm alles andere als nach Lächeln zumute war. Irgendwas an dieser Situation - der Nebel? das Schweigen der Jachtbesatzung? - raubte ihm die Courage, und er wusste nicht, warum. »Ich sage, wir gehen rüber.«
    Jer wirkte alles andere als glücklich, wusste seinen Argumenten jedoch sichtlich nichts mehr entgegenzusetzen. »Aber du gehst vor, klar?«, sagte er betont. Es klang so scherzhaft, wie es sicher auch gemeint war, aber Stan hörte das leichte Zittern in der Stimme seines Kompagnons trotzdem.
    Spürst du es etwa auch?, fragte Stan ihn in Gedanken. Diese eiskalte Hand in deinen Eingeweiden? Ich dachte, sie sei meiner überreizten Fantasie verschuldet, aber wenn es dir genauso geht, liegt’s vielleicht doch an… Er sah zur Libertys Tränen, jenem jachtförmigen Schemen draußen im Nebel, und schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen, alter Mann, tadelte er sich selbst. Bist doch sonst kein Schisser. Also spar dir den Unfug. Das ist nur ein führerloses Schiff, weiter nichts. Klar?
    Keine drei Minuten später waren sie an Bord. Sie hatten längsseits der Tränen angelegt, ihren Kutter mit dicken Tauen an der chromglänzenden Reling der Jacht gesichert und den eigenen Anker gesetzt. So würde das Ding wenigstens nicht weiter durch den Nebel treiben können. Mit ihren Handlampen bewaffnet, machten sie sich dann auf, das stille Schiff zu erkunden.
    Der Eindruck, den sie von drüben aus gewonnen hatten, bestätigte sich voll und ganz. Diese Jacht war so luxuriös, wie sie nur sein konnte, und nahezu klinisch rein. Makellos weiße Außenwände, goldene Handläufer, Planken aus dunklem Edelholz. An der Seite des Kabinenhäuschens sah Stan eine quadratische Satellitenantenne, mit der sich fraglos dutzendfach mehr Sender empfangen ließen, als er sich daheim mit seinem Dachgestell je erträumen durfte.
    »Hier kann man vom Fußboden essen«, murmelte Jer und schlug den Kragen seines dunkelblauen Arbeitsmantels höher.
    »Mhm«, bestätigte Stan - instinktiv genauso leise; irgendwas an dieser Atmosphäre ließ die Männer vorsichtig sein - und trat auf die Tür zu, die ins Innere des mehrstöckigen Kabinenaufbaus und in den Bauch der Jacht führte. »Nur ist keiner da, der isst.«
    Die Tür stand offen. Bei jeder Bewegung, die der Wellengang dem Schiff abverlangte, schlug sie leise gegen ihren eigenen Rahmen. Es war das einzige Geräusch weit und breit, abgesehen vom Rauschen der Bay. Selbst die sonst omnipräsenten Möwen schienen einen Bogen um Libertys Tränen zu machen, aber das war natürlich wieder völliger Unfug.
    Oder?
    »Hey«, rief Stan ins Dunkel jenseits der Schwelle. »Hey, jemand zu Hause?«
    Nichts.
    Jer ließ den Kegel seiner Lampe über die Schwelle gleiten, konnte dem Dunkel im Inneren der Jacht aber nur ein paar wenige Zentimeter Land abtrotzen. Auf diesen Zentimetern jedoch…
    »Da. Da liegt was«, sagte Jer leise. »Siehst du? Gleich auf der ersten Stufe.«
    Er meinte die Treppe, die im Kabineninneren nach unten in den Schiffsbauch führte. Auf der obersten Stufe befand sich ein kleines, rötlich schimmerndes Bündel, kaum größer als ein zerknülltes Handtuch.

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