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0985 - Libertys Tränen

0985 - Libertys Tränen

Titel: 0985 - Libertys Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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Was immer es war, es passte so gar nicht ins Bild der makellos ordentlichen Jacht.
    Stan ging in die Hocke, um es zu betrachten. Kurz darauf wünschte er sich, blind zu sein. Das war… Nein, unmöglich. Das konnte nicht, durfte nicht…
    »Was ist es?«, drängte Jer hörbar unsicher. »Stan, sag schon.«
    Stan schluckte die Galle, die ihm in den Mund geschossen war, wieder runter und atmete tief durch. »Blut«, antwortete er zögerlich. »Haare. Und… Wenn du mich fragst, Kopfhaut. Das ist ein Skalp, Jer!« Er hätte nach dem Bündel greifen und sich vergewissern können, doch sein Ekel hinderte ihn daran - aus gutem Grund.
    »Was?« Jer trat zu ihm, bückte sich und wurde prompt grün im Gesicht. »Tatsache! Oh, verflucht.«
    Was war hier nur geschehen? Das Ding war echt, daran bestand kein Zweifel. Stunden später, nach dem Grauen und Entsetzen, würde sich Stan wünschen, spätestens an dieser Stelle des bizarren Abenteuers die Coast Guard alarmiert zu haben, doch in dem Moment selbst kam ihm nicht einmal der Gedanke, die Behörden zu rufen.
    »Ich geh rein«, stieß er gepresst hervor, richtete sich wieder auf und trat über die Schwelle ins Dunkel.
    Er musste nicht weit gehen, um sich für diesen Entschluss zu verfluchen. Das Innere der Tränen sah aus, als sei er direkt in die Hölle geraten. Stan zählte vier Körper, während er starr vor Schreck dastand und nicht weiter wusste. Vier Personen unterschiedlichen Alters. Zwei von ihnen, eine junge und eine ältere Frau, trugen nichts außer knappe Badesachen, der Skipper - erkennbar an seinem navyblauen Sakko - hatte einen dichten, grauen Vollbart, und das Kind…
    »Großer Gott.« Jer wandte sich ab und übergab sich direkt auf den teuren Orientteppich.
    Es war die Kopfhaut des Kindes gewesen, oben auf der Treppe. Stan sah seine blutige Schädeldecke und das in stummer Qual erstarrte Gesicht über der durchgeschnittenen Kehle, und wusste es einfach.
    Blut. Überall Blut.
    ***
    »Wenn ich’s Ihnen doch sage, Sergeant Sippowitsch: um Leben und Tod!«
    Andy Sipowicz seufzte innerlich und stellte sein Gehör auf Durchzug. Es war nicht das erste Mal, das jemand mit seinem Nachnamen Schwierigkeiten hatte -und erst recht nicht das erste Mal, das jemand meinte, ihn mit Dingen zulabern zu müssen, die objektiv betrachtet in etwa so wichtig waren wie ein Eiswürfel am Nordkap.
    Und er verfluchte Zandt, seinen Vorgesetzten.
    Sehen Sie’s als Fortbildungsmaßnahme, Andy , hatte der stiernackige Lieutenant vom Police Plaza One, dem größten Revier im Herzen Manhattans, gesagt und dabei gegrinst wie ein Honigkuchenpferd. Nach all der Zeit im städtischen Dienst tut Ihnen eine Runde in der Provinz sicher gut. Zurück zur Basis, verstehen Sie? Erleben, was es tief drin bedeutet, Cop zu sein. Streife gehen, Thekendienst. Der hilfreiche Polizist von nebenan sein, den jeder kennt und grüßt. Direkter Kontakt mit den Bürgern.
    Es war eine Bestrafung, darüber hatten auch die »schönen« Worte und der joviale Tonfall nicht wegtäuschen können. Und das schelmische Glitzern in Zandts Augen hatte sein übriges getan, zu unterstreichen, wie bewusst sich der Lieutenant dessen gewesen war. Andy hatte keine Spezialbehandlung bekommen, weil er sie sich in Zandts Augen verdiente, sondern weil der Lieutenant in loswerden wollte - und zwar auf eine Art und Weise, die ihm, Andy, größtmögliche Qual bereitete.
    Und was die Basis anging…
    »Hören Sie, Mister, äh…«
    »Jennings«, soufflierte der schmächtige Graukopf auf der anderen Seite der Reviertheke im Tonfall unverhohlener Entrüstung. Das Licht der Morgensonne fiel durch das kleine Fenster und ihm direkt ins Gesicht, das dadurch noch käsiger als ohnehin schon wirkte. »Lyle Jennings. Aber das habe ich Ihnen doch längst gesagt. Ich bin der Kura…«
    »Kurator des Historischen Museums hier auf City Island, ich weiß«, unterbrach Andy seinen Redefluss schnell wieder. »Aber ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. Was die öffentlichen Gelder für die Zweihundertfünfzigjahrfeier der Inselgemeinde angeht, entscheidet allein City Hall, nicht das CIPD. Und bei der Gestaltung des Festgeländes sind Sie leider an die städtischen Auflagen gebunden, wie alle anderen Veranstalter auch.«
    Der Typ - Jennings - war vor knapp zwanzig Minuten in das winzige Büro in der Centre Street geplatzt, das hier auf City Island als Polizeiwache durchging. Und seitdem redete er mehr oder weniger ohne Punkt und Komma - besser gesagt: Er

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