0985 - Libertys Tränen
Tatort war, desto öfter verloren sich Polizeibeamte in Gesprächen über triviale Dinge. Als könnten sie damit irgendwie einen Ausgleich schaffen.
Das Innere der Libertys Tränen bestätigte diese Theorie auf grausamste Art. »Was in Dreiteufelsnamen…«, stieß Andy hervor, als er über die Schwelle ins Kabineninnere trat. Dann schloss er den Mund und atmete nur noch durch die Nase, um seinen Mageninhalt wieder zurück in selbigen zu zwingen.
»Das Wort, das Sie suchen, ist ›Massaker‹, Sir«, soufflierte Bosworth. Er sprach gedämpft, als wolle er die Toten nicht wecken. Doch so wie die aussahen, hätten das selbst die Posaunen von Jericho nicht mehr vermocht. »Was Sie hier sehen, sind Mr. Jesse Stone aus Daytona Beach, Florida, nebst vierter Gattin Evangeline, Tochter Claire aus erster Ehe und dem jüngsten Sohn Calvin.« Er seufzte. »Was Sie hier nicht sehen, ist die jeweilige Kopfhaut nebst Haarschopf der Genannten. Drei davon sind unauffindbar, die vierte lag bei unserem Eintreffen dort, wo Sie sich aktuell befinden, und wurde bereits von der SpuSi gesichert.«
Andy schmeckte Galle und wünschte sich weit weg. »Herr im Himmel.«
»Was Sie dafür aber wiederum sehen, sind Kampfspuren«, fuhr Bosworth seinen makaber anmutenden Bericht fort. »Todeskampfspuren, um genau zu sein. Soweit wir es rekonstruieren konnten - und die Feinarbeit überlassen wir da sehr gern Ihnen -, wurde Familie Stone letzte Nacht bei ihrem Ausñug auf die Bay von Unbekannten überrascht und, verzeihen Sie den Ausdruck, niedergemetzelt. Wer auch immer dies tat, kam mit mindestens drei Personen, war stark wie ein Bär und kannte keinerlei Rücksicht.«
»Fingerabdrücke?«, stieß Andy aus. Es fühlte sich körperlich nicht fähig, längere als Ein-Wort-Sätze zu formulieren. »DNS - Spuren?«
»Bislang negativ, aber wie wir alle wissen und Gott danken, übernehmen Sie vom City Island PD diese Scheiße ja ab sofort.«
Andy nickte langsam. »Wir Glücklichen.« Vorsichtig durchschritt er den Raum, betrachtete den Zustand der Leichen und die Kampfspuren. Die Stones waren nicht wehrlos gegangen, das stand fest. Umso erstaunlicher, dass sich keinerlei Fremd-DNS unter ihren Fingernägeln oder in ihren Mündern gefunden haben sollte.
Als hätte ein Rudel Gespenster sie attackiert , dachte er, tadelte sich aber sofort dafür. Genau für diese Art von Para-Denke hatte Zandt ihn schließlich hierher ins Exil verbannt.
»Eins noch, bevor wir Ihnen das Feld überlassen«, sagte Bosworth und riss ihn aus seiner Konzentration. »Das hier sollten Sie sich besonders gründlich ansehen.«
Andy wandte sich abermals zu dem jungen Mann um und hob eine Braue. Bosworth deutete auf die Kabinenwand rechts der Treppe und zerrte mit der anderen Hand eine Kamera aus der Jackentasche.
»Was denn? Dass dort nichts zu sehen ist?«
Im Gegensatz zum Rest des Tatorts zierte kaum ein einziger Blutspritzer die Kunststoff- und-Edelholz-Wand.
»Dort nicht«, antwortete der Officer.
»Aber hier.« Dann hielt er Andy das Display seiner Digitalkamera hin. »Es fiel uns erst auf, als wir die Bilder draußen kontrollierten. Mit bloßem Auge sieht man’s nicht. Nicht einmal unter Schwarzlicht.«
Andy stand vor Verblüffung der Mund offen. Das Foto zeigte ganz eindeutig die besagte Wand - doch im Gegensatz zu dem, was seine Augen ihm mitteilten, prangte auf dem Bild eine Schrift in ihrer Mitte.
»Ist die aus Blut?«
Bosworth nickte nur zaghaft. »Der Färbung nach zu urteilen, ja. Aber da wir’s ›in echt‹ nicht sehen…«
Es sah aus, als hätte ein wütender Riese die Lettern an die Wand geschmiert - mit dem Blut seiner Opfer. Schiefe, zerlaufene Buchstaben aus getrocknetem Blut. »Anne Hook?«, versuchte Andy sie zu entziffern. »Anna Heck?«
»Möglich, Sir. Wir sind so ratlos wie Sie. Was heißt das? Wie geht das? Keine Ahnung. Wir hatten gehofft, Sie wüssten vielleicht, wer oder was damit gemeint sein soll - schließlich sind Sie von hier, oder?«
Andy ließ seinen Blick erneut über das Höllenszenario innerhalb der Luxusjacht schweifen. Von hier ist wohl nur der Satan, dachte er bitter, verkniff es sich aber, die Worte laut auszusprechen. Bosworth hätte sie ohnehin falsch verstanden.
***
Lyle Jennings kochte innerlich. Nicht nur, dass dieser dahergelaufene Städter von der Wache ihn mitten in der Unterhaltung stehen gelassen und sich anderen Dingen gewidmet hatte - nein, er hatte ihn auch noch vor die Tür gesetzt wie einen ungewollten
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