0985 - Libertys Tränen

Amulettenergie ebenfalls in das teuflische Möbelstück fahren. Erst jetzt bemerkte Nicole, dass der Tränensplitter nicht länger in dem Holz steckte - er schien sich in Luft aufgelöst zu haben, ähnlich wie Roslyn. Ob die beiden etwa gemeinsam…?
    Ein Krachen erklang, laut und zerstörerisch. Dann stand der Kolonialspiegel lichterloh in Flammen - richtigen, verzehrenden Flammen. Sie vernichteten ihn, und was das Feuer nicht schaffte, erledigte das Dämonenlicht selbst.
    »Es verblasst«, rief Zamorra ihr über die Schulter zu. »Siehst du? Die Wolken!«
    Nicole schaute nach oben. Der Himmel über City Island klarte zusehends auf, als wäre, was auch immer dort oben geschehen war, gemeinsam mit Roslyn und dem Tränensplitter aus dieser Wirklichkeit entwichen. Und mit den Wolken verging auch das dämonische Grün.
    Der Kampf war vorbei. Sie brauchte einige Sekunden, um diese Erkenntnis zu fassen, doch sie war wahr. Sie hatten es überstanden.
    Als der Spiegel verbrannt war, kam Zamorra auf sie zu. Schweiß glänzte auf seinem kreidebleichen Gesicht, und seine Schultern bebten, als hätte er Schüttelfrost, doch in seinen Augen funkelte es lausbübisch. »Hey, Miss Duval. Schön, dass Sie auch mal wieder reinschneien. Ich dachte schon, ich müsste das hier ohne Sie durchziehen.«
    Nicole wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Kannst du mir mal erklären, was das gerade war?«
    »Vorsicht!«, hallte es auf einmal von den Wänden des Museums wider.
    Nicole wirbelte herum - und sah Lyle Jennings auf sich zustürmen! Das Gesicht des Kurators war eine einzige Fratze des Wahnsinns, in der kein Hauch Menschlichkeit mehr übrig war. Sein Arm war erhoben, und in der blutenden Hand hielt er ein etwa zwanzig Zentimeter langes Reststück der Spiegeloberfläche. Eine spitze, scharfe Scherbe. Wenige Millimeter trennten das Ding von Nicoles Brustkorb.
    Und Amy schoss.
    Zwei Kugeln trafen den Kurator in die Seite, rissen ihn aus seiner Angriffsbahn und ließen ihn zu Boden gehen. Dort blieb er reglos liegen. Die Scherbe flog ihm aus der Hand.
    »Was zum…«, keuchte Nicole.
    Als sie den Kopf wandte, sah sie Amy Williams und Andy Sipowicz auf der Schwelle der Museumstür stehen. Amy, von der der Warnruf gekommen war, hatte den Revolver noch erhoben. Aus dem Lauf der Waffe stieg ein dünner Rauchfaden.
    ***
    »Moment mal«, sagte Amy und sah die anderen fragend an. »Hab ich das jetzt richtig verstanden? Dieser Tränensplitter, der eigentlich Nicole hatte vernichten sollen, ging fälschlicherweise auf Roslyn über, richtig? Dadurch verschwanden nicht nur Splitter und Bürgermeister, sondern auch der zweite Lyle, den nur der Professor hat sehen können, sowie die eigenartigen Wetterprobleme über der Insel. Dann schlug noch ein letzter dieser, na, nennen wir’s mal Blitze in den Spiegel ein, woraufhin der verbrannte, und mit einer der Spiegelscherben versuchte der echte Lyle noch schnell, seine Enttäuschung über die Niederlage an Nicole auszulassen.«
    »Wobei du ihn gestört hast«, sagte diese. »Besten Dank, übrigens.«
    Amy atmete tief aus. »Meine Güte!«
    »Siehst du, was ich meine?«, fragte Andy und legte den Arm um ihre Schultern. »Mit Zamorra wird’s nie langweilig. Entweder versucht man, gegen undurchschaubare Gegner zu bestehen, oder man versucht zu begreifen, in welcher Scheiße man da eigentlich wieder mal geraten ist. Beides gelingt einem, wenn überhaupt, eher schlecht als recht. Aber was willste machen?«
    Sie hatten den Schauplatz des Geschehens bereits vor zwei Stunden den Behörden überlassen. Das Fire Department und eine eigens aus der Bronx herbeizitierte Polizeistaffel kümmerten sich um die Aufräumarbeiten und die Sicherung des Areals. Der persönliche Stab des Bürgermeisters durchkämmte Museum und Umgebung auf der Suche nach Roslyn, würde ihn aber nicht finden. Soweit es die Öffentlichkeit betraf, die des Wetters wegen ohnehin nicht zur Feststunde erschienen war, waren die Ereignisse auf Jennings und den Sturm zurückzuführen. So lautete die offizielle Version: wahnsinnig gewordener Kurator, Donner, Blitz, fertig. Mehr musste und würde New York nicht erfahren.
    Zamorra seufzte. Er hatte Amy nicht viel über die Tränen LUZIFERs erklären müssen. Seit ihrem unfreiwilligen Ausflug in den Nebel wusste die junge Frau weit mehr über diese Artefakte, als ihr lieb war. Die wenigen Lücken hatten er und Nicole noch aufgefüllt, als sie zu viert zurück in der kleinen Wache der Insel waren