099 - Die Lady mit den toten Augen
die
milde Luft.
Edith Shrink sprach mit sich selbst. Sie stieß kleine, spitze
Schreie aus. Sie lief und merkte nicht, daß sie gar nicht mehr auf dem Weg war,
auf den sie anfangs noch geachtet hatte.
Als sie es
merkte, suchte sie verzweifelt nach dem Pfad. Aber sie fand ihn nicht mehr.
Sie fiel in
einen Busch, zerkratzte sich Arme und Beine und riß sich wieder los. Ihre
Kleidung zerfetzte.
Aber sie
achtete nicht darauf.
Die junge
Frau wußte nicht, wohin sie lief und warum sie lief. Wie von Furien gejagt, wie
gepeitscht rannte sie.
War es Nacht,
war es Tag? Sie wußte es nicht. Sie wußte überhaupt nichts.
War sie lange
bewußtlos gewesen? Nur wenige Minuten? Stunden? Tagelang?
Das letzte
konnte sie selbst widerlegen und bewies ihr, daß sie trotz der Schrecken, die
sich wie glühende Nadeln in ihr Bewußtsein bohrten, noch zu einem klaren
Gedanken fähig war.
Tage konnte
es nicht her sein.
Das Blut auf
ihrem Gesicht und an ihren Händen war warm und frisch, und der Geschmack nach
Chloroform in ihrem Mund noch erhalten.
Es mußte noch
Nacht sein.
Taumelnd lief
Edith Shrink weiter, und ewige Nacht und höllische
Gedanken hüllten sie ein.
●
„Und ich sage
dir eins: diesmal haben wir unseren Urlaub ehrlich verdient, Towarischtsch“,
behauptete der stoppelköpfige Russe und dehnte seinen breiten Brustkasten. Sie
waren noch spät unterwegs und kamen aus dem Norden von Wales. In der Nähe von
Montgomery waren sie tätig gewesen.
Larry Brent
alias X-RAY-3 saß hinter dem Steuer des Leih-Bentley und ließ den Wagen
gleichmäßig über die nächtliche Straße rollen.
Sie hatten
einen kurzen, aber harten Einsatz hinter sich. Die Freunde waren vor drei Tagen
nach Wales gekommen. Sie waren beauftragt gewesen, das Schicksal eines
PSA-Agenten zu klären, der ein gewagtes Unternehmen riskiert hatte. In einem
alten Castle, acht Meilen außerhalb von Montgomery, waren die Schatten der
Vergangenheit erwacht. Ein PSA-Agent war bei dem Versuch, den todbringenden
Spuk auszuschalten, selbst ums Leben gekommen. Larry und Iwan war es gelungen,
reinen Tisch zu machen.
Iwan
Kunaritschew erzählte davon, daß er die folgenden drei Wochen im hohen Norden
Kanadas verbringen und Forellen fangen wolle. Es sollte ein richtiger
Faulenzerurlaub werden.
Auch Larrys
Reiseziel stand fest: Er wollte an einer Foto-Safari teilnehmen. Die hatte er
schon lange im Sinn, aber immer wieder verschieben müssen.
„Weißt du...“
begann Larry und wandte den Blick nicht von der leeren Fahrbahn, die sich wie
eine riesige, dunkle Schlange zwischen den links und rechts auftürmenden
Baumreihen durchzog.
Plötzlich
taumelte eine Gestalt quer über die Straße.
Eine Frau!
Sie befand sich genau im Scheinwerferlicht. Sie kam aus dem Wald.
X-RAY-3
reagierte sofort.
Blitzschnell
stand er auf der Bremse, zog den Wagen auf die Seite und schlug wieder ein.
Nicht zu hart, um ihn nicht ins Schleudern zu bringen.
Der
Amerikaner manövrierte geschickt, konnte aber nicht verhindern, daß er die
Fremde leicht streifte.
„Zum Teufel“,
knurrte der Russe. „Was ist denn jetzt passiert Da denkt man an nichts
Schlechtes, höchstens an seine zukünftige Schwiegermutter, und dann passiert so
etwas!“
Kunaritschew
riß auch schon die Tür auf und sprang hinaus, noch ehe der Wagen richtig stand.
Iwan sah, wie
die Fremde taumelte, erreichte sie aber, ehe sie zu Boden stürzte, und fing sie
auf.
„Aber wie
konnten Sie denn...“ Mehr sagte X-RAY-7 nicht. Kunaritschew verschlug es die Sprache.
Er erblickte das zerschundene Gesicht mit den fehlenden Augen, das verkrustete
Blut auf den Wangenknochen und mußte schlucken.
Larry kam
eilends hinzu.
„Sieh’ dir
das an.“ Mehr brauchte der Russe nicht zu sagen.
X-RAY-3
wechselte einen Blick mit dem Freund.
Er kniete
nieder. Die Frau war erschöpft und stand unter einem schweren Schock. Auf den
ersten Blick war zu erkennen, daß die schrecklichen Wunden, die man ihr
beigebracht hatte, noch nicht sehr alt waren.
„Wer sind Sie?
Wo kommen Sie her? Was ist passiert?“
Larry stellte
die drei Fragen in einem Atemzug.
Der PSA-Agent
faßte die Fremde fest an den Schultern. Der Kopf fiel ihr auf die Brust. Sie
war völlig erschöpft.
Man mußte sie
förmlich anschreien, um sie überhaupt noch zu erreichen.
Es schien ihr
gar nicht bewußt geworden zu sein, was passiert war, daß sie nur mit knapper
Mühe dem Tod entronnen.
Edith Shrink antwortete nicht. Sie bewegte zwar die Lippen, aber
kein
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