0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
aus Paxton. Es geschah vor mehr als zweihundert Jahren, und es soll sich wiederholen. Die Zeiten mögen sich geändert haben, auch das Umfeld der Menschen. Sie selbst aber sind gleichgeblieben.«
Grace Felder fehlten die Worte. Sie schaute starr nach unten. Ich merkte, wie sie versuchte, Argumente dagegen zu finden. Einige Male setzte sie zum Sprechen an, aber sie schaffte es nicht, auch nur einen Satz vernünftig hervorzubringen. Schließlich genehmigte sich die Tochter des Pastors noch einen Whisky. Danach hustete sie und drehte sich scharf zu mir um. »Was Sie mir da gesagt haben, John, das kenne ich. Ja, ich habe es auch gehört. Ich laufe nicht auf meinen Ohren. Die Leute hier sprechen hin und wieder davon. Es ist eine uralte Geschichte, mit der man uns als Kindern Furcht hatte einjagen wollen. Eine Legende, eine Sage, nichts weiter.«
»Meinen Sie?«
»Daran ist nichts wahr.«
»Die Leute hier denken anders darüber!« hielt ich ihr entgegen.
»Wieso?«
»Sie glauben daran, und die Anzeichen deuten darauf hin, daß sie sich nicht geirrt haben.«
»Wie lange sind Sie hier, John?«
»Einige Stunden.«
Grace reckte mir ihr Kinn entgegen. »Und dann sind Sie schon so gut darüber informiert, was die Leute denken? Das ist seltsam, da komme ich nicht mit. Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Brett McCormick.«
»Jaaa…«, sagte sie gedehnt und lachend. »Das kann ich mir denken, Mister. Dieser McCormick ist ein Mensch, der keine Arbeit mehr hat. Ich kenne ihn von früher her. Er hat seinen Job immer sehr gewissenhaft durchgeführt, daran gibt es keine Zweifel. Aber er wird es kaum überwunden haben, daß man ihn pensioniert und somit in die Wüste geschickt hat. Ich glaube nämlich nicht, daß er recht hat. Der Mann sieht irgendwo Gespenster, John.«
»Wenn das Ihre Meinung ist, kann ich nichts ändern. Aber möglicherweise kann uns Ihr Vater darüber nähere Auskünfte geben. Er muß ebenfalls informiert sein.«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Weil er die alten Kirchenbücher in seinem Besitz hat. Und ich denke, daß er hin und wieder dort hineingeschaut hat.«
»Weiß ich nicht!« erwiderte Grace schnippisch, bevor sie daranging, im Raum herumzuwandern. Sie atmete dabei scharf ein und aus, schaute mal durch das Fenster, drehte sich wieder um und fixierte mich.
Es kam mir so vor, daß diese Frau nicht unbedingt darauf erpicht war, daß ihr Vater und ich zusammentrafen, denn sie machte keinen Versuch, mich zu ihm zu bringen. Sie tat einfach so, als hätte sie die letzten Sätze überhört.
»Sind Ihnen die Veränderungen hier nicht aufgefallen, Grace? Haben Sie in Paxton Kinder auf der Straße gesehen?«
»Darauf habe ich nicht geachtet.«
»Schön, dann kann ich Ihnen sagen, daß sich keine Kinder an der frischen Luft aufhielten. Selbst dort nicht, wo der Weihnachtsbaum seinen Platz gefunden hat. Zumindest keine lebenden Kinder.«
Der letzte Satz hatte sie elektrisiert. »Was soll das denn schon wieder heißen?«
»Denken Sie nach.«
»Meinen Sie tote Kinder?«
Ich hob die Schultern und wiegte den Kopf. »Die Stimmen haben Sie nie gehört? Die Gesänge und…«
»Ach, reden Sie doch nicht solch einen Unsinn! Ich habe bisher viel von Ihnen gehalten, John, jetzt aber schnappen Sie langsam über. Ich denke sogar, daß es besser ist, wenn Sie jetzt gehen und mich hier allein lassen.«
Ich verstand ihr Verhalten nicht. Bei unserem ersten Treffen hatte sie anders reagiert. Da hatte sie mir sogar ein Zimmer im Pfarrhaus angeboten, nun aber tat sie so, als wäre ich ein lästiges Insekt, das sie loswerden wollte.
Warum hatte sie ihre Meinung geändert? Wußte sie mittlerweile mehr?
Hatte sie sich über gewisse Dinge erkundigt, während ich bei McCormick gewesen war? Einen anderen Grund für den Sinneswandel konnte ich mir nicht vorstellen. Möglicherweise wollte sie auch ihren Vater schützen, der wohl mehr wußte.
»Ich werde gehen, Grace, aber zuvor muß ich noch mit Ihrem Vater reden. Ob es Ihnen paßt oder nicht.«
»Es paßt mir nicht, wenn Sie es genau wissen wollen.«
Ich seufzte. »Das ist schlecht. Warum stellen Sie sich so hartnäckig gegen mich?«
»Das will ich Ihnen sagen. Weil ich das alles, was Sie mir erzählt haben, für Unsinn halte. Ja, für blanken Unsinn. So etwas kann es nicht geben.«
»Es ist verbrieft, daß die Kinder damals umkamen.«
»Ja, ja!« rief sie, »das mag alles sein. Aber das ist damals gewesen. Heute sieht es anders aus.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das
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