0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
glaube ich nicht, Grace. Da sind Sie wirklich auf dem falschen Dampfer. Weshalb lassen Sie mich nicht zu Ihrem Vater?«
»Er soll seine Ruhe haben. Es ist bald Weihnachten. Da hat er genug zu tun. Ich will nicht, daß Sie ihn stören. Außerdem ist er nicht mehr der Jüngste. Meine Eltern haben mich spät bekommen, und mein Vater ist fast siebzig.«
»Das alles ist kein Kriterium.«
»Für mich schon.«
»Grace, ich werde mit ihm reden müssen, auch wenn Sie sich dagegen sträuben.«
Sie blitzte mich an, und es sah aus, als wollte sie sich auf die Zehenspitzen stellen. »Hören Sie, John, ich kann nicht begreifen, daß Sie sich mir gegenüber so verhalten. Was, zum Teufel, gibt Ihnen eigentlich das Recht?«
»Ich erkläre es Ihnen«, erwiderte ich mit ruhiger Stimme. »Als wir uns zum erstenmal trafen, da waren Sie der Meinung, daß ich nicht nur zum Spaß in dieses Kaff gekommen bin. Damit haben Sie recht gehabt. Ich bin dienstlich hier.«
Sie staunte. In ihrem Gesicht zuckte es. Sie krauste die Stirn und ging dabei zurück. »Was haben Sie da gesagt? Dienstlich?«
»Ja.«
»Soll das heißen, daß Sie…?«
»Ich bin Polizist. Scotland Yard. Und der Kollege McCormick hat mich nicht grundlos gerufen.«
»Ach«, sagte sie leise und verengte dabei ihre Augen. »So ist das also. Sie sind ein Schnüffler, ein…«
»Nein, nein, kein Detektiv, sondern…«
»Das ist mir doch egal. Sie sind von der Polizei, und Sie kommen her, weil irgendeiner so einen Schwachsinn von sich gegeben hat. Haben Sie wirklich nichts anderes zu tun, als darauf zu hören, John?« Sie schlug sich gegen die Stirn. »Das will mir nicht in den Kopf. Ich hatte vor der Polizei nie viel Respekt, jetzt aber noch weniger, wo ihre Beamten auf den senilen Quatsch eines Pensionisten hereinfallen.«
Allmählich fing ich an, mich über ihre Sturheit zu ärgern. Aber auch ich konnte stur sein. »Es tut mir leid, Grace, aber hier geht es um Dinge, denen ich auf den Grund gehen muß. Auch Sie werden mich nicht davon abhalten können, mit Ihrem Vater zu sprechen. Wenn Sie mich nicht zu ihm führen, muß ich ihn suchen. Aber ich werde nicht aufgeben, darauf können Sie sich verlassen.«
Sie senkte den Kopf. »Ich gehe mit.«
»Gut. Dann ist er hier?«
»Ja.« Noch immer hielt sie den Kopf gesenkt, was mich schon etwas wunderte.
»Ist etwas mit Ihrem Vater?«
»Warum?«
»Sie sehen aus wie jemand, der einen Menschen schützen möchte.«
»Ja, das will ich auch. Meinem Vater geht es nicht gut. Ich habe auch nur kurz mit ihm sprechen können. Er wollte allein bleiben, verstehen Sie das?«
»Sicher. Die Vorbereitungen für Weihnachten und so weiter. Er wird die Messen lesen müssen…«
»Ich weiß nicht, ob es das nur ist. Vielleicht haben Sie auch mehr Recht, als ich Ihnen zugestehen will. Jedenfalls hat sich mein Vater sehr verändert.«
»Auf welche Weise?«
»Angst?« murmelte sie und hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob es nur Angst ist. Oder auch ein Wissen über gewisse Dinge. Wer kann das schon sagen?«
»Wie haben Sie es denn festgestellt?«
»Ganz einfach, John. Er wollte, daß ich gehe.« Sie lachte schriller als normal. »Er wollte mich über Weihnachten nicht hier in seinem Haus haben. Es ist verrückt. Ich kann es nicht fassen. Ich hätte nie mit einer derartigen Reaktion gerechnet, aber es ist so. Er wollte seine eigene Tochter hinauswerfen.« Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf.
»Fassen kann ich das noch immer nicht. Aber ich werde auch nicht mehr gefragt. Ich bin hier eine Fremde und habe erleben müssen, daß mir der eigene Vater ebenfalls auf eine erschreckende Art und Weise fremd geworden ist.« Sie litt darunter, das war für mich zu sehen. »Wie ich das genau beschreiben soll, weiß ich selbst nicht, aber ich hatte den Eindruck, vor einem Fremden zu stehen und nicht vor meinem eigenen Vater. Können Sie das nachvollziehen?«
»Es ist nicht einfach, aber wenn ich mich mit den Umständen beschäftige und daran denke, was Ihr Vater unter Umständen wissen könnte oder müßte, dann ist das nicht so weit weg. Er hat Angst vor gewissen Dingen. Er ist jemand, der den Durchblick hat oder ihn schon immer hatte. Sicherlich hat er darunter gelitten, und er hat die Dinge auch stets weit von sich geschoben, aber es stimmt schon, daß er sich jetzt fürchten muß, wo das eingetreten ist, was vor mehr als zweihundert Jahren seinen Anfang und zugleich ein schreckliches Ende genommen hat. Ich weiß, daß die Kinder am
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