1. Die Rinucci Brüder: Wenn golden die Sonne im Meer versinkt
Erster. Die Worte sprudelten ihm nur so heraus, was zuweilen auf Kosten der Genauigkeit ging.
„Sprich bitte etwas langsamer, und überleg genau, w as du sagst“, musste sie ihn dann ermahnen, obwohl sie sich über seinen Eifer und sei ne lebhafte Beteiligung freute.
“
Aber nach der Schule wirkte er wieder teilnahmslos und nicht selten auch mürrisch. Nein, nicht mürrisch, sondern unglücklich, korrigierte si e sich.
Sie fuhr langsamer und hielt schließlich neben ihm an.
„Hallo, Miss Wharton“, begrüßte er sie.
Evie nahm den Helm ab. „Hallo, Mark. Hattest du heute viel zu tun?“
„Ja, ich bin …“ Er verstummte, als er ihren belusti gten Blick bemerkte. „Okay, genau genommen war ich nicht in der Schule.“
„Was hast du denn stattdessen gemacht … genau genom men?“
Er zuckte die Schultern, als könnte er sich nicht e rinnern oder als wäre es ihm egal. „Du hast ja heute nicht zum ersten Mal die Schule geschwänzt“, stellte sie fest, ohne vorwurfsvoll zu klingen.
Wieder zuckte er die Schultern.
„Wo wohnst du?“
„In der Hanfield Avenue.“
„Dann bist du weit gelaufen. Wie kommst du nach Hause?“ Als er schwieg und noch einmal die Schultern zuckte, fügte sie hinzu: „Soll ich di ch mitnehmen?“
Seine Miene hellte sich auf. „Würden Sie das tun?“
„Klar, wenn du den aufsetzt.“ Sie reichte ihm ihren Helm.
Mark setzte ihn auf, und sie vergewisserte sich, dass er es richtig gemacht hatte.
„Aber jetzt haben Sie ja keinen mehr“, bemerkte er.
„Stimmt. Deshalb werde ich sehr langsam und vorsichtig fahren. Steig auf, und halt dich an mir fest.“
Nachdem der Junge sich hinter sie gesetzt hatte, fuhr sie weiter. Eine halbe Stunde später waren sie in der von Bäumen gesäumten Hanfield Aven ue, einer vornehmen Wohngegend mit exklusiven Villen. Während Evie das Motorrad auf der Einfahrt abstellte und zur Haustür ging, bereitete sie sich insgeheim auf die Begegnung mit seinen Eltern vor, die sich wahrscheinlich schon Sorgen machten.
Aber die Frau, die die Tür öffnete, war zu alt, um Marks Mutter zu sein. Als sie das Motorrad erblickte, rief sie entsetzt aus: „Was, um alles in der Welt …?“
„Hallo, Lily“, begrüßte Mark sie.
„Was fällt dir ein, so spät nach Hause zu kommen? U nd noch dazu auf dem Ding da?“ Dann sah sie Evie scharf an. „Und wer sind Sie?“
„Das ist meine Lehrerin Miss Wharton“, stellte Mark sie vor. „Miss Wharton, das ist Lily, die Haushälterin meines Vaters.“
„Kommen Sie rein“, forderte Lily Evie auf und betra chtete sie skeptisch. „Mark, das Essen steht für dich in der Küche bereit.“
„Kann ich mit Marks Eltern sprechen?“, fragte Evie und betrat die Eingangshalle.
Lily wartete, bis Mark in der Küche verschwunden wa r. „Seine Mutter lebt nicht mehr, und sein Vater ist noch nicht da“, antwortete sie.
„Ich würde gern auf ihn warten.“
„Es kann lange dauern. Man weiß nie, ob und wann er kommt.“
„Was macht er denn?“
„Übernahmen.“
„Wie bitte?“
„Ja, er ist Geschäftsmann und besitzt ein Firmenimp erium. Die Unternehmen, die er noch nicht besitzt, übernimmt er. Wenn er sie nicht über nehmen kann, schaltet er sie aus – überspitzt ausgedrückt.“
„Ich verstehe.“ Evie nickte. „Wenn man so ehrgeizig e Ziele hat, hat man natürlich für nichts anderes Zeit.“
„Richtig. Ich bin mehr oder weniger die einzige Bezugsperson, die der arme Junge hat, und das ist nicht gut für ihn. Die Eltern kann ich ihm nicht ersetzen, obwohl ich tue, was ich
kann.“ Plötzlich wurde ihr bewusst, was sie da gesa gt hatte, und sie fügte rasch hinzu: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das Mr. Dane gegenüber nicht erwähnten.“
„Nein, ganz bestimmt nicht. Aber ich bin froh, dass Sie mit mir geredet haben.“
„Ich mache Ihnen einen Tee. Gehen Sie bitte geradeaus ins Wohnzimmer.“
Während sie auf den Tee wartete, sah Evie sich im Wohnzimmer um. Das war also Justin Danes Zuhause. Offenbar konnte er seinem Sohn jeden Luxus bieten, nur Wärme fehlte. Plötzlich fiel ihr auf, dass es keinen Hinweis auf Marks Mutter gab, keine Fotos und auch sonst nichts, was ihren Sohn an sie erinnert hätte.
„Was, zum Teufel, machen Sie hier? Wer sind Sie?“, ertönte plötzlich eine männliche Stimme hinter ihr.
Evie zuckte zusammen und drehte sich um. Der Mann, der an der Tür stand, konnte nur Marks Vater sein. Debra hatte ihn zutreffend beschrieben. Sein markantes Gesicht wirkte
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