1 - Wächter der Nacht
erteilt?«
Geser sah Maxim an. Als spüre er den Blick, hob der Inquisitor den Kopf.
»Die Erlaubnis liegt vor«, bestätigte er mit dumpfer Stimme.
»Einspruch von Seiten der Tagwache«, brachte Sebulon gelangweilt hervor.
»Abgelehnt«, erwiderte Maxim gleichmütig. Abermals ließ er den Kopf auf die Brust sinken.
»Die Große Zauberin kann die Kreide jetzt in die Hand nehmen«, meinte ich. »Jede Zeile im Schicksalsbuch wird einen Teil ihrer Seele löschen. Löschen – und durch einen geänderten ersetzen. Das Schicksal eines Menschen kann man nur ändern, wenn man die eigene Seele drangibt.«
»Ich weiß«, sagte Swetlana. Sie lächelte. »Anton, du musst entschuldigen. Ich halte das für richtig. Es wird von Nutzen sein – für alle.«
In Jegors Augen blitzte Beunruhigung auf. Er spürte, dass etwas nicht stimmte.
»Anton, du bist ein Kämpfer der Wache«, meinte Geser. »Wenn du Einwände hast, kannst du sie jetzt vortragen.«
Einwände? Wogegen denn? Dass Jegor nicht ein Dunkler, sondern ein Lichter Magier wird? Dass er versucht, selbst wenn es noch so oft nicht geklappt hat, den Menschen Gutes zu bringen? Dass Swetlana eine Große Zauberin wird?
Wenn sie dabei auch alles Menschliche opfert, das noch in ihr ist.
»Ich habe nichts zu sagen«, erklärte ich.
Kam es mir nur so vor, oder funkelte in Gesers Augen Erstaunen auf?
Es war schwer zu ergründen, woran der Große Magier jetzt eigentlich dachte.
»Fangen wir an«, sagte er. »Swetlana, du weißt, was du zu tun hast.«
»Ja.« Sie sah mich an. Ich trat ein paar Schritte zurück. Geser ebenfalls. Jetzt standen sie zu zweit da, Swetlana und Jegor. Beide gleichermaßen verwirrt. Gleichermaßen angespannt. Ich beugte mich zu Sebulon hinüber. Der wartete. Swetlana öffnete das Futteral – das Knirschen der Schließen klang wie ein Schuss – und nahm langsam, als müsse sie einen Widerstand überwinden, die Kreide heraus. Ein winziges Stück. Ob es sich wirklich über die Jahrtausende, in denen das Licht versuchte, das Schicksal der Welt zu ändern, so abgenutzt hatte?
Geser seufzte.
Swetlana ging in die Hocke und begann einen Kreis zu zeichnen, der sie und den Jungen umschloss.
Mir blieb nichts zu sagen. Nichts zu tun.
Ich hatte so viel Kraft gesammelt, dass sie am Rand überschwappte.
Ich habe das Recht, Gutes zu tun.
Doch eine Kleinigkeit fehlte mir: das Verständnis.
Wind wehte. Ein zarter, vorsichtiger Wind. Legte sich.
Ich sah hoch und erschauerte. Etwas tat sich. Hier, in der Menschenwelt, hatte sich der Himmel mit Wolken bedeckt. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie sie aufgezogen waren.
Swetlana hatte den Kreis fertig gezeichnet. Erhob sich.
Ich versuchte, sie durchs Zwielicht anzusehen, und wandte mich sofort ab. In ihrer Hand loderte ein Stück glühende Kohle. Fühlte sie den Schmerz?
»Ein Unwetter zieht auf«, sagte Sebulon aus der Ferne. »Ein richtiger Sturm, wie wir ihn lange nicht hatten.« Er lachte höhnisch auf.
Niemand schenkte seinen Worten Beachtung. Höchstens der Wind – er begann stetiger zu wehen, immer stärker. Ich sah nach unten – dort war alles ruhig. Swetlana fuhr mit der Kreide durch die Luft, als zeichne sie etwas, das nur sie sehen konnte. Eine rechteckige Kontur. Ein Muster darin. Jegor stöhnte leise. Warf den Kopf in den Nacken. Ich wollte schon einen Schritt nach vorn machen, hielt aber inne. Durch die Barriere kam ich nicht. Und wozu auch?
Darum ging es nicht.
Wenn du nicht weißt, was du machen sollst, darfst du auf nichts vertrauen. Weder auf den kühlen Kopf, noch auf das reine Herz, noch auf die heißen Hände.
»Anton!«
Ich sah Geser an. Der Chef wirkte irgendwie besorgt.
»Das ist nicht nur ein Sturm, Anton. Das ist ein Orkan. Es wird Opfer geben.«
»Die Dunklen?«, fragte ich bloß.
»Nein. Die Naturgewalten.«
»Haben wir es mit der Konzentration der Kraft etwas übertrieben?«, fragte ich. Der Chef ging nicht auf meinen spöttischen Ton ein.
»Anton, bis zu welchem Grad darfst du Magie einsetzen?«
Natürlich wusste er von dem Handel mit Sebulon.
»Bis zum zweiten.«
»Du kannst den Orkan aufhalten«, sagte Geser. Konstatierte einfach den Fakt. »Es wird bei einem Wolkenbruch bleiben. Du hast genug Kraft gesammelt.«
Der Wind fegte erneut los. Er hatte nicht mehr vor abzuflauen. Der Wind riss und drückte, als sei er entschlossen, uns vom Dach zu wischen. Regen peitschte.
»Das ist vermutlich die letzte Chance«, fuhr der Chef fort. »Aber es ist deine
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