1 - Wächter der Nacht
sie hätten ihn im ersten Kriegsjahr abgefackelt. Und mit ihm ganz Deutschland. Bei Stalin war es etwas anders, der wurde auf geradezu ungeheuerliche Weise vergöttert – was ein mächtiger Schild ist. Anton, ich, eine einfache russische Frau …« Ein flüchtiges Lächeln ließ keinen Zweifel, wie Olga zu dem Wort »einfach« stand. »… ich habe mich den ganzen letzten Krieg hindurch damit beschäftigt, die Feinde meines Landes vor Flüchen zu schützen. Allein dafür hätte ich mir die Begnadigung verdient. Glaubst du’s?«
»Unbedingt.« Ich hatte den Eindruck, dass sie einen in der Krone hatte.
»Eine Scheißarbeit … Wir müssen ja alle gegen die menschliche Natur handeln, aber so weit zu gehen … Also, Anton, sie werden es nicht schaffen. Ich könnte es probieren. Aber selbst ich habe meine Zweifel.«
»Olga, wenn es so schlimm aussieht, musst du Meldung machen …«
Die Frau schüttelte den Kopf und strich sich über das feuchte Haar. »Das kann ich nicht. Es ist mir verboten, mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen, abgesehen von Boris Ignatjewitsch und meinem jeweiligen Partner. Ihm habe ich alles gesagt. Jetzt kann ich nur noch abwarten. Und hoffen, dass es mir gelingt … im letzten Moment noch gelingt.«
»Versteht der Chef das denn nicht?«
»Im Gegenteil, ich denke, er versteht es.«
»Aber das ist doch …«, flüsterte ich.
»Wir waren einmal ein Paar. Sehr lange. Außerdem auch noch Freunde, was selten vorkommt … Also, Anton, heute nehmen wir uns den Jungen und die bescheuerte Vampirin vor. Morgen müssen wir warten. Warten, bis das Inferno durchbricht. Einverstanden?«
»Darüber muss ich erst nachdenken, Olga.«
»Sehr schön. Denk darüber nach. Für mich ist es jetzt Zeit. Dreh dich um …«
Ich war nicht schnell genug. Olga war vermutlich selbst schuld daran. Sie hatte nicht darauf geachtet, wie viel Zeit ihr zur Verfügung stand.
Der Anblick war wirklich ekelhaft. Olga erzitterte und krümmte sich. Durch ihren Körper lief eine Welle: Die Knochen verbogen sich, als seien sie aus Gummi. Die Haut platzte ab, sodass die blutdurchströmten Muskeln freigelegt wurden. In Sekundenschnelle hatte sich die Frau in einen feuchten Klumpen Fleisch verwandelt, in eine formlose Kugel. Und diese Kugel schrumpfte und schrumpfte, ihr wuchsen weiche weiße Federn …
Die Schnee-Eule flatterte mit einem halb menschlichen, halb vogelhaften Schrei vom Hocker auf. Flog zu ihrem Lieblingsplatz auf dem Kühlschrank.
»Teufel auch!«, schrie ich unter Missachtung aller Regeln und Vorschriften. »Olga!«
»Hübsch, was?« Die Stimme der Frau klang atemlos, noch schmerzverzerrt.
»Warum? Warum gerade so?«
»Das ist ein Teil der Strafe, Anton.«
Ich streckte die Hand aus und berührte den ausgebreiteten, zitternden Flügel. »Olga, ich bin mit allem einverstanden.«
»Dann an die Arbeit, Anton.«
Ich nickte und ging in die Diele. Nachdem ich den Schrank mit meiner Ausrüstung geöffnet hatte, trat ich ins Zwielicht ein – andernfalls sieht man nämlich nichts anderes als Anziehsachen und altes Gerümpel.
Ein leichter Körper ließ sich auf meiner Schulter nieder.
»Womit kannst du aufwarten?«
»Das Onyxamulett habe ich entladen. Kannst du es aufladen?«
»Nein. Mir wurden fast alle Kräfte entzogen. Man hat mir nur die gelassen, die nötig sind, um ein Inferno zu neutralisieren. Und mein Gedächtnis, Anton – mein Gedächtnis hat man mir auch gelassen. Wie willst du die Vampirin töten?«
»Sie ist nicht registriert«, sagte ich. »Also nur mit folkloristischen Mitteln.«
Die Eule stieß ein gackerndes Krächzen aus. »Greift man noch immer zu Espenholz?«
»Ich hab zumindest keins.«
»Verstehe. Wegen deiner Freunde?«
»Ja. Ich möchte nicht, dass sie anfangen zu zittern, sobald sie die Wohnung betreten.«
»Also, was dann?«
Aus einer Aussparung in den Ziegeln holte ich eine Pistole hervor. Ich schielte zu der Eule hin – Olga musterte die Waffe aufmerksam.
»Silber? Für einen Vampir sehr schmerzhaft, aber nicht tödlich.«
»Sie ist mit Dumdumgeschossen geladen.« Ich zog das Magazin aus der Desert Eagle. »Mit silbernen Dumdumgeschossen. Kaliber null vierundvierzig. Drei Treffer, und der Vampir ist so durchsiebt, dass er nichts mehr anrichten kann.«
»Und wie dann weiter?«
»Mit folkloristischen Mitteln.«
»Ich misstraue der Technik«, erwiderte Olga mit Zweifel in der Stimme. »Ich hab mal gesehen, wie ein Tiermensch wieder auf die Beine gekommen ist, nachdem er von
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