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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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draußen das Sonnenlicht erloschen …
    Hier war noch jemand.
    »Nein«, schrie Jegor und kroch weg. »Ich weiß es! Ich weiß es! Ihr seid hier!«
    Der Kater stieß einen kollernden Laut aus und flüchtete unters Bett.
    »Ich seh dich!«, brüllte der Junge. »Rühr mich nicht an!« Der Hauseingang hätte sowieso düster und verdreckt gewirkt. Doch aus dem Zwielicht heraus betrachtet war er die reinste Katakombe. Die Betonwände, in der normalen Realität einfach nur dreckig, bewucherte im Zwielicht dunkelblaues Moos. Widerwärtig. Kein Anderer wohnte hier, der das Haus hätte davon befreien können … Ich strich mit der Hand über eine besonders dichte Stelle – das Moos fing an zu wabern, versuchte, vor der Wärme davonzukriechen. »Brenne«, befahl ich.
    Parasiten mag ich nicht. Selbst wenn sie eigentlich keinen Schaden anrichten, sondern nur fremde Gefühle trinken. Die Hypothese, die riesigen Kolonien blauen Mooses könnten die menschliche Psyche durchschütteln und so Depressionen oder eine sorglose Heiterkeit hervorrufen, hat bislang noch niemand bewiesen. Doch ich habe es schon immer vorgezogen, auf Nummer sicher zu gehen.
    »Brenne!«, wiederholte ich und schickte ein wenig Kraft in meine Handfläche.
    Eine transparente heiße Flamme erfasste den dichten blauen Filz. Im Nu loderte der ganze Eingang. Ich ging zum Fahrstuhl, drückte den Knopf und betrat die Kabine. Die war sauberer.
    »Achter Stock«, soufflierte Olga. »Warum hast du deine Kräfte dafür verschwendet?«
    »War doch nicht der Rede wert …«
    »Es kann sein, dass du alle Kraft brauchst, die du hast. Soll das Zeug doch wachsen.«
    Ich hüllte mich in Schweigen. Der Fahrstuhl zuckelte langsam nach oben, ein Zwielicht-Lift, der Doppelgänger des normalen, der nach wie vor im Erdgeschoss wartete.
    »Du musst es ja wissen«, meinte Olga. »Die Jugend … ihre Kompromisslosigkeit …«
    Die Türen öffneten sich. Hier im achten Stock tobte bereits das Feuer, das blaue Moos brannte wie Zunder. Es war heiß, viel heißer als normalerweise im Zwielicht. Leichter Brandgeruch lag in der Luft.
    »Die Tür da …«, sagte Olga.
    »Ich seh’s.«
    In der Tat spürte ich die Aura des Jungen an der Tür. Er hatte sich heute noch nicht mal getraut, das Haus zu verlassen. Gut. Das Zicklein war an einer festen Leine, jetzt mussten wir nur noch auf den Tiger warten.
    »Ich werde dann mal hineingehen«, verkündete ich. Und stieß gegen die Tür.
    Die ging nicht auf.
    Das konnte doch nicht wahr sein!
    In der Realität mögen Türen mit allen möglichen Schlössern verriegelt sein – aber das Zwielicht hat seine eigenen Gesetze. Nur Vampire brauchen eine Einladung, damit sie ein fremdes Haus betreten dürfen, das ist der Preis, den sie für ihre außergewöhnliche Kraft und die gastronomische Beziehung zu den Menschen zahlen.
    Um im Zwielicht eine Tür zu versperren, muss man zumindest in selbiges eintreten können.
    »Das ist die Angst«, sagte Olga. »Gestern war der Junge entsetzt. Und gerade eben aus der Zwielicht-Welt zurück. Er schloss die Tür hinter sich – und ohne es merken, hat er es gleich in beiden Welten getan.«
    »Und was machen wir jetzt?«
    »Komm tiefer. Folge mir.«
    Ich schaute auf meine Schulter – da war niemand. Das Zwielicht heraufzubeschwören, wenn man bereits in ihm weilt, ist kein Kinderspiel. Mehrmals musste ich meinen Schatten vom Boden heben, bis er schließlich Volumen gewann und vor mir in der Luft waberte.
    »Komm schon, du schaffst es«, flüsterte Olga.
    Ich trat in den Schatten hinein, und das Zwielicht verdichtete sich. Dicker Nebel quoll im ganzen Raum. Die Farben verschwanden völlig. Es war nur noch ein Geräusch zu hören: der Schlag meines Herzens, schwer und langsam, nachhallend, als würde auf dem Grund einer Schlucht auf eine Trommel eingedroschen. Und Wind pfiff – die Luft kroch in die Lungen, dehnte langsam die Bronchien. Auf meiner Schulter tauchte die weiße Eule auf.
    »Lange halt ich es hier nicht aus«, flüsterte ich, während ich die Tür öffnete. In dieser Schicht war sie natürlich nicht verschlossen.
    An meinen Beinen schoss ein dunkelgrauer Kater vorbei. Für Katzen existiert weder die Menschen- noch die Zwielicht-Welt, sie leben in allen Welten zugleich. Nur gut, dass sie ziemlich dumm sind.
    »Mietz, Mietz, Mietz«, flüsterte ich. »Du brauchst keine Angst haben, kleiner Kater …«
    Wohl um meine Kräfte zu testen, schloss ich hinter mir die Tür. So, mein Junge, jetzt bist du etwas besser

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