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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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dir erklären. Aber erst musst du mir glauben, dass ich nicht dein Feind bin. Einverstanden?«
    »Mal seh’n.«
    Er klammerte sich an sein albernes Kettchen, als könne es ihn vor irgendetwas schützen. Ach, mein Junge, wenn doch bloß alles so einfach wäre in der Welt. Doch weder Silber noch Espenholz oder das heilige Kreuz werden dich retten. Das Leben gegen den Tod, die Liebe gegen den Hass – und Kraft gegen Kraft, denn die Kraft kennt keine moralische Kategorien. So einfach ist das alles. Das habe sogar ich innerhalb von nur zwei, drei Jahren begriffen.
    »Jegor.« Langsam ging ich auf ihn zu. »Hör gut zu, was ich dir jetzt sage …«
    »Stehen bleiben!«
    Den Befehl erteilte er derart entschlossen, als halte er eine Waffe in Händen. Seufzend blieb ich stehen.
    »Gut. Hör trotzdem zu. Abgesehen von der normalen Welt, der Menschenwelt, die du mit deinen Augen sehen kannst, gibt es noch eine Welt der Schatten, eine Zwielicht-Welt.«
    Er dachte darüber nach. Trotz seiner Panik – und er hatte eine fürchterliche Angst, ich spürte Wellen erstickenden Entsetzens – versuchte der Junge, das zu begreifen. Es gibt Menschen, die paralysiert ihre Angst. Es gibt aber auch andere, denen sie Kraft verleiht.
    Liebend gern hätte ich gehofft, auch zur zweiten Kategorie zu gehören.
    »Eine Parallelwelt?«
    Na bitte. Die Science-Fiction trat auf den Plan. Na meinetwegen, Namen waren dabei nur Schall und Rauch.
    »Ja. Und in diese Welt können nur die gelangen, die übernatürliche Fähigkeiten haben.«
    »Vampire?«
    »Nicht nur. Auch Tiermenschen, Hexen, schwarze Magier … aber auch weiße Magier, Heiler und Seher.«
    »Gibt es die denn alle wirklich?«
    Er war klatschnass. Die Haare klebten ihm am Kopf, das T-Shirt am Körper, über seine Wangen sickerten Schweißperlen. Trotzdem ließ mich der Junge nicht aus den Augen und hielt sich abwehrbereit. Als übersteige das nicht seine Kräfte.
    »Ja, Jegor. Manche Menschen sind in der Lage, in die Zwielicht-Welt einzutreten. Sie stellen sich auf die Seite des Guten oder des Bösen. Des Lichts oder des Dunkels. Sie sind die Anderen. So nennen wir einander: die Anderen.«
    »Sind Sie ein Anderer?«
    »Ja. Und du auch.«
    »Warum das?«
    »Du bist jetzt in der Zwielicht-Welt, mein Kleiner. Schau dich um und hör genau hin. Die Farben sind verblasst. Die Geräusche verstummt. Der Sekundenzeiger kriecht nur noch über das Zifferblatt dahin. Du bist in die Zwielicht-Welt eingetreten … Du wolltest die Gefahr erkennen und hast dabei die Grenze zwischen den beiden Welten überschritten. Hier vergeht die Zeit langsamer, hier ist alles anders. Denn das ist die Welt der Anderen.«
    »Das glaube ich nicht.« Jegor drehte sich kurz um, dann sah er mich wieder an. »Und warum ist Greysik hier?«
    »Der Kater?« Ich lächelte. »Tiere haben ihre eigenen Gesetze, Jegor. Katzen leben in allen Räumen zugleich, für sie besteht da kein Unterschied.«
    »Glaub ich nicht.« Seine Stimme zitterte. »Das ist alles nur ein Traum, das weiß ich genau! Wenn das Licht verblasst … Ich schlafe. Das habe ich schon öfter erlebt.«
    »Du träumst, dass du das Licht anknipst, aber die Lampe geht nicht an?« Die Antwort auf die Frage kannte ich bereits, außerdem stand sie mehr als deutlich in den Augen des Jungen geschrieben. »Oder leuchtet nur ganz, ganz schwach, so wie eine Kerze? Und du läufst, während um dich herum das Dunkel wabert, streckst die Hand aus … kannst aber die einzelnen Finger nicht mehr unterscheiden?«
    Er schwieg.
    »Das passiert uns allen, Jegor. Jeder Andere hat solche Träume. Die Zwielicht-Welt kriecht dann in uns hinein, ruft uns, bringt sich in Erinnerung. Du bist ein Anderer. Auch wenn du noch klein bist, bist du ein Anderer. Und nur von dir hängt ab, ob …«
    Ich begriff nicht auf Anhieb, dass seine Augen geschlossen waren, sein Kopf zur Seite weggesackt war.
    »Du Idiot«, flüsterte Olga auf meiner Schulter. »Er ist zum ersten Mal ganz allein ins Zwielicht eingetreten! Seine Kräfte reichen dafür nicht! Zieh ihn raus, schnell, sonst bleibt er für immer hier!«
    Das Zwielicht-Koma – die Krankheit aller Neulinge. Fast hätte ich sie vergessen, da ich nicht mit jungen Anderen arbeitete.
    »Jegor!« Ich stürzte auf ihn zu, rüttelte ihn, fasste ihn unter den Achseln. Er war leicht, ganz leicht, denn in der Zwielicht-Welt verändert sich nicht nur der Lauf der Zeit. »Wach auf!«
    Keine Reaktion. Der Junge hatte etwas geschafft, wofür andere Monate lang

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