Liebesfilmriss
1. Kapitel
Sollte Ginny Holland auf Mitgefühl spekuliert haben, dann war sie hier am falschen Ort. Das hätte ihr klar sein müssen. Andererseits war es ein sonniger, wenn auch kühler Samstagmorgen im Oktober, und ihre Alternativen waren begrenzt.
Außerdem musste sie nur einmal quer über die Straße gehen.
»Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie ich mich fühle.« Sie ballte die Faust, presste sie an die Brust und schüttelte frustriert den Kopf. »Es ist so … so …«
»Ich weiß genau, wie es ist. Das nennt man das Vogelnest-Syndrom«, erklärte Carla.
Ginny schnitt eine Grimasse, weil Carla nämlich gar keine eigenen Kinder hatte. »
Vogelnest-Syndrom
beschreibt eher den Zustand meiner Haare. Ich leide unter dem Syndrom des leeren Nestes. Mein Nest ist verwaist, mein Baby ist ausgeflogen und ich fühle mich innerlich leer und hohl wie … wie ein billiges Osterei.«
»Tja, ich finde, du spinnst.« Carla führte gerade Sit-ups auf olympischem Niveau durch, die Füße unter dem cremefarbenen Ledersofa verkeilt, die glänzenden Haare hin und her schwingend. »Jem studiert jetzt. Du hast deine Freiheit wieder. Das solltest du feiern.« Ihr kam noch eine Gedanke. »Außerdem sind die Ostereier von Cadbury innen nicht hohl, sondern haben diese Cremefüllung.«
»Im Gegensatz zu dir«, erklärte Ginny. »Du bist herzlos.«
»Und du bist 38 und keine 70 .« Nachdem Carla ihren fünfmillionsten Sit-up absolviert hatte, hob sie die Beine hoch und radelte los, ohne auch nur eine Pause zum Luftholen einzulegen. »Ich bin ein Jahr älter als du und sieh mich an, ich amüsiere mich großartig! Ich fühle mich topfit, kein Mann kann mir widerstehen, und der Sex war nie besser. Ich bin eine Frau auf dem Höhepunkt ihres Daseins«, endete sie. »Und du auch.«
Ginny wusste, dass ihr Leben nicht vorüber war, natürlich wusste sie das, aber dennoch hatte Jems Auszug sie völlig aus der Bahn geworfen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie immer so glücklich und umtriebig gewesen, so dass sie jetzt eine völlig neue Erfahrung durchmachte. Da half es auch nicht, dass der Winter vor der Tür stand. Die meisten Arbeitsplätze in Portsilver waren saisonbedingt, und sie hatte die vergangenen sechs Monate damit zugebracht, sich die Füße in einem Café am Strand wundzukellnern. Aber jetzt waren die Touristen abgezogen, Jem studierte in Bristol, und Ginny hatte auf einmal mehr Zeit, als sie es gewöhnt war. Dazu kam, dass zwei ihrer Freundinnen im letzten Monat weggezogen waren, dass ihre Lieblingsbar verkauft und in einen geräuschintensiven Sammelpunkt für minderjährige Alkopop-Konsumenten verwandelt worden war und dass der Latino-Tanzkurs, den sie so genossen hatte, abrupt endete, als ihr Tanzlehrer während eines Samba ausrutschte und sich die Hüfte brach. Alles in allem war es nicht gerade der beste Oktober seit Menschengedenken.
Ginny betrachtete ihr Spiegelbild in Carlas prächtigem venezianischen Spiegel und pustete sich die ausgewachsenen Fransen aus dem Gesicht, die ihr mittlerweile bis über die Augen hingen. Das zuvor erwähnte Vogelnesthaar war lang, blond und lockig, wobei die Locken auf ihrem Kopf selbst ziemlich dickköpfig sein konnten. Was ihr Gesicht anbelangte, so ähnelte sie nicht gerade einer zerknitterten, alten Pflaume – Ginny sah eigentlich jung für ihr Alter aus –, aber in der Welt der Hochglanzmagazine hätte es dennoch reichlich Raum für Verbesserungen gegeben. Es wäre herrlich, so schick, gepflegt und mühelos
femme fatale
-ig zu wirken wie Carla, aber offen gesagt war Ginny der ganze Aufwand einfach zu viel.
»Du musst dich zusammenreißen.« Carla richtete sich auf. »Amüsier dich. Zieh los und gönne dir ein Abenteuer.«
»Ich sage ja nur, dass ich Jem vermisse.« Ginny hasste es, sich so zu fühlen. Sie war sich noch nie in ihrem Leben derart hilfsbedürftig vorgekommen.
»Jem würde auch wollen, dass du ein Abenteuer erlebst«, argumentierte Carla.
»Ich weiß.« Ginny zupfte an einem losen Faden an ihrem Pulloverärmel. »Aber ich will nichts weiter als sie sehen.«
»Na schön. Nur zu, wenn es das ist, was du willst. Und wenn du glaubst, dass es Jem nichts ausmacht.«
Jetzt hatte Ginny bekommen, weswegen sie gekommen war. »Genau das werde ich tun.«
»Was?«
»Ich werde nach Bristol fahren und Jem besuchen. Das ist eine großartige Idee!«
»Jetzt sofort? Solltest du sie nicht zuerst anrufen?«, wandte Carla ein. »Sie könnte sich gerade unzähligen unerlaubten
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