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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Karte. Setzt die eigenen Leute genauso wie die anderen. Ist es nicht so, Boris Ignatjewitsch?«
    »Ja«, antwortete der Chef.
    Alissa lachte leise auf und ging zur Luke. Sie konnte jetzt nicht fliegen. Tigerjunges hatte sie tüchtig in die Mangel genommen. Und trotzdem hatte die Hexe gute Laune.
    Ich sah Semjon an, der meinem Blick auswich. Tigerjunges verwandelte sich langsam in eine Frau zurück – und versuchte ebenfalls, mich nicht anzusehen. Bär brüllte einmal kurz und stapfte ohne sein Äußeres zu ändern zur Luke. Er nahm es schwerer als die anderen. Er ist zu gradlinig. Bär, dieser hervorragende Kämpfer und Gegner von Kompromissen …
    »Ihr seid Schufte, alle miteinander«, sagte Jegor. Er rappelte sich ungelenk hoch, was nicht nur an seiner Erschöpfung lag – der Chef versorgte ihn jetzt, ich sah den feinen Faden der Kraft, der sich in der Luft spannte –, sondern weil es anfangs immer schwer ist, sich vom eigenen Schatten loszureißen.
    Ich folgte ihm. Das war nicht weiter problematisch, denn in der letzten Viertelstunde war derart viel Energie ins Zwielicht geflossen, dass es seine übliche aggressive Zähigkeit eingebüßt hatte.
    Noch im selben Moment, als ich aus dem Zwielicht heraustrat, hörte ich ein widerwärtiges dumpfes Klatschen: Der vom Dach gestürzte Hexer war eben auf dem Asphalt aufgeschlagen.
    Nach und nach tauchten die anderen auf. Eine sympathische schwarzhaarige Frau, die unter dem linken Auge blutete und deren Wangenknochen gebrochen war, ein unerschütterliches, stämmiges Kerlchen, ein imposanter Geschäftsmann im orientalischen Gewand … Bär war bereits weg. Ich wusste, was er in seiner Wohnung, in seiner Höhle, machen würde: reinen Sprit trinken und Gedichte lesen. Höchstwahrscheinlich laut. Und dabei in den fröhlich brabbelnden Fernseher glotzen.
    Die Vampirin war auch da. Ihr ging es miserabel, sie grummelte irgendetwas, schüttelte den Kopf und versuchte den zerbissenen Arm zu belecken. Erschöpft mühte sich dieser, wieder zusammenzuwachsen. Rundherum war alles mit Blut bespritzt – nicht mit ihrem natürlich, sondern mit dem des letzten Opfers …
    »Hau ab«, sagte ich und hob die schwere Pistole. Meine Hand zitterte verdächtig.
    Die Kugel schlug klatschend ein, drang durch den toten Körper, an der Seite der Frau klaffte eine hässliche Wunde auf. Die Vampirin stöhnte und presste die gesunde Hand auf die Stelle. Der andere Arm baumelte an ein paar dünnen Sehnen herab.
    »Das ist nicht nötig«, sagte Semjon sanft. »Das ist nicht nötig, Anton …«
    Trotzdem zielte ich auf ihren Kopf. Doch in diesem Augenblick schoss ein riesiger schwarzer Schatten vom Himmel herab, eine Fledermaus, groß wie ein Kondor. Sie breitete die Flügel aus, schirmte die Vampirin ab und krümmte sich unter den Krämpfen der Transformation zusammen.
    »Sie hat das Recht auf einen Prozess!«
    Auf Kostja konnte ich nicht schießen. Ich stand einfach da und schaute auf den jungen Vampir, der im selben Haus wohnte wie ich. Er wich meinem Blick nicht aus, sondern sah mich direkt und unerbittlich an. Wie lange schleichst du schon hinter mir her, mein Freund und Widersacher? Und wozu? Um eine Artgenossin zu retten oder um den Schritt zu verhindern, der mich zu deinem Todfeind machen würde?
    Ich zuckte die Schultern und steckte die Pistole in den Hosenbund. Du hast Recht, Olga. Diese ganze Technik ist Quatsch.
    »Das hat sie«, bestätigte der Chef. »Semjon, Tigerjunges, ihr beide eskortiert sie.«
    »Gut«, sagte Tigerjunges. Sie sah mich an – nicht mitleidig, sondern verständnisvoll. Mit federndem Schritt ging sie auf die Vampirin zu.
    »Ihr blüht sowieso die Höchststrafe«, flüsterte Semjon, bevor er ihnen nachstapfte.
    So verließen auch sie das Dach: Kostja, der die stöhnende, nichts begreifende Vampirin in den Armen trug, dann Semjon und Tigerjunges, die ihnen schweigend folgten.
    Wir blieben zu dritt übrig.
    »Du hast wirklich Fähigkeiten, mein Junge«, sagte der Chef sanft. »Nicht sehr große, doch die meisten haben nicht einmal die. Ich würde mich freuen, wenn du mein Schüler würdest …«
    »Scheren Sie sich doch …«, setzte Jegor an. Höflichkeit verbot es ihm, den Satz zu beenden. Lautlos weinte der Junge vor sich hin, verzog das Gesicht und versuchte, die Tränen zurückzuhalten – was ihm jedoch nicht gelingen wollte.
    Eine kleine Einwirkung siebten Grades, und ihm wäre leichter zumute. Er würde verstehen, dass das Licht nicht gegen das Dunkel kämpfen

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