1 - Wächter der Nacht
treuen Geliebten … Die Menschen sehen nicht, was hier geschieht, doch ihre Seelen werden davon berührt.
Wozu?
Wozu macht die Tagwache das alles?
In diesem Moment wehte mich unvermittelt Ruhe an. Eine kalte, nüchterne, fast vergessene Ruhe.
Eine mehrzügige Kombination. Mal angenommen, alles läuft nach einem Plan der Tagwache ab. Setzen wir das als Prämisse. Und dann verbinden wir alle Zufälle, angefangen von meiner Jagd in der Metro, nein, angefangen mit dem Augenblick, als der junge Vampir von uns das Mädchen als Futter zugewiesen bekam, in das er sich unweigerlich verliebte.
Die Gedanken strömten jetzt so entschlossen, als hätte ich ein Brainstorming ausgelöst, mich in das Bewusstsein anderer Menschen eingeklinkt, wie das unsere Analytiker ab und zu machen. Nein, das war natürlich nicht der Fall – aber einige Teilchen dieses Puzzles regten sich mit einem Mal, ordneten sich neu auf dem Tisch an, wurden lebendig und fügten sich vor meinen Augen zusammen.
Der Tagwache war die Vampirin schnuppe.
Die Tagwache würde es wegen eines Jungen mit potenziell sehr großen Fähigkeiten nicht auf einen Konflikt ankommen lassen.
Für die Tagwache gab es nur einen Grund, warum sie so etwas einfädelte.
Den Dunklen Magier mit sagenhaftem Potenzial.
Den Dunklen Magier, der ihre Position stärken würde – nicht nur in Moskau, sondern auf dem ganzen Kontinent.
Aber sie hätten ihn doch auch so bekommen, wir haben doch versprochen, ihnen den Dunklen Magier zu überlassen …
Dieser unsichtbare Magier war das X. Die einzige unbekannte Größe in der Gleichung. Als Y konnte man Jegor betrachten: Seine Widerstandskraft gegenüber der Magie war bereits zu ausgeprägt für einen Neuling unter den Anderen. Trotzdem stellte der Junge eine bekannte Größe dar, wenn auch mit unbekanntem Faktor.
Der bewusst in die Gleichung aufgenommen wurde. Um sie komplizierter zu machen.
»Sebulon!«, schrie ich. Hinter mir wälzte sich Jegor, der aufstehen wollte und dabei auf dem Eis ausrutschte. Semjon, der immer noch seinen Schutz aufrechterhielt, ging von dem Magier weg. Völlig leidenschaftslos beobachtete Ilja das Geschehen. Bär näherte sich der zuckenden Vampirin, die auf die Beine zu kommen versuchte. Tigerjunges und die Hexe Alissa gingen schon wieder aufeinander zu. »Sebulon!«
Der Dämon sah mich an.
»Ich weiß, um wen ihr kämpft!«
Nein, noch wusste ich es nicht. Aber langsam schwante mir etwas, denn das Puzzle fügte sich zu einem Ganzen und zeigte ein mir bekanntes Gesicht …
Der Dämon öffnete das Maul – die Kiefer klappten nach links und nach rechts wie bei einem Käfer. Immer stärker erinnerte er an ein gigantisches Insekt, die Schuppen waren zum Panzer zusammengewachsen und die Genitalien sowie der Schwanz eingeschrumpft, während an den Seiten neue Extremitäten herauswuchsen.
»Dann bist du … tot.«
Seine Stimme klang wie eh und je, hatte eher noch an Nachdenklichkeit und Intellektualität gewonnen. Sebulon streckte mir den Arm entgegen – der sich ruckartig verlängerte, immer neue und neue Gelenke hinzugewann.
»Komm her …«, flüsterte Sebulon.
Alle erstarrten. Bis auf mich – ich ging auf den Dunklen Magier zu. Von dem mentalen Schutz, den ich mir in langen Jahren zugelegt hatte, blieb nicht die Spur übrig. Es überstieg meine Kräfte, überstieg sie bei weitem, mich Sebulon zu widersetzen.
»Bleib stehen!«, brüllte Tigerjunges und drehte sich von der ramponierten, aber grinsenden Hexe weg. »Bleib stehen!«
Nur zu gern hätte ich ihr die Bitte erfüllt. Aber ich konnte nicht.
»Anton …«, erklang es hinter mir. »Dreh dich um …«
Das konnte ich. Indem ich den Kopf zurückdrehte, entriss ich mich dem Blick aus den bernsteinfarbenen Augen mit den vertikalen Pupillen.
Jegor hockte da, zum Aufstehen fehlte ihm die Kraft. Erstaunlich, dass er überhaupt bei Bewusstsein war – denn von außen floss ihm keine Energie mehr zu. Der Zufluss war versiegt, der das Interesse des Chefs geweckt hatte, von Anfang an dagewesen war. Der Faktor Y. Ins Spiel gebracht, um die Situation komplizierter zu machen.
An Jegors Hand baumelte die Kupferkette mit dem kleinen beinernen Amulett.
»Fang!«, schrie der Junge.
»Nimm es nicht!«, befahl Sebulon. Doch zu spät, ich hatte mich schon vorgebeugt und mir das Amulett gegriffen, das vor meinen Füßen gelandet war. Die Berührung mit dem beschnitzten Medaillon versengte mich, fast als hätte ich glühende Kohle angefasst.
Ich sah den
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