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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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leuchtenden Ziffern der Uhr sprangen um: fünf Uhr morgens. Bald würden die Hausmeister hervorgekrochen kommen, um sich an die Arbeit zu machen. Der Bezirk war alt, renommiert, hier achtete man auf Sauberkeit. Wie schön, dass es weder regnete noch schneite, der Winter hatte ein Ende, verreckt war das Scheusal und hatte dem Frühling Platz gemacht mit all seinen Problemen und überzogenen Ansprüchen …
    Eine Haustür knallte. Eine junge Frau trat auf die Straße, blieb kurz stehen, rückte den Riemen der Tasche auf der Schulter zurecht, alles etwa zehn Meter vom Auto entfernt. Diese blöden Häuser ohne Höfe, hier arbeitete man nicht gern, hier lebte man bestimmt auch nicht gern: Was hatte man denn von all dem Renommée, wenn die Rohre verfaulten, die meterhohen Wände vor Schimmel starrten und vermutlich Gespenster umgingen.
    Maxim lächelte leicht und stieg aus dem Auto. Sein Körper gehorchte ihm einwandfrei, die Muskeln waren über Nacht nicht eingeschlafen, sondern schienen sogar noch Kraft gesammelt zu haben. Ein gutes Zeichen.
    Dennoch, interessieren würde es ihn schon einmal: Ob es eigentlich Gespenster gibt?
    »Galina!«, rief er.
    Die Frau drehte sich zu ihm um. Auch das war ein sicheres Anzeichen, sonst wäre sie losgerannt, denn ein Mann, der dich in aller Herrgottsfrühe vor deinem Haus abpasst, ist doch verdächtig und gefährlich.
    »Ich kenne Sie nicht«, sagte sie. Ruhig, neugierig.
    »Stimmt«, bestätigte Maxim. »Dafür kenne ich Sie.«
    »Wer sind Sie?«
    »Der Richtherr!«
    Diese Form gefiel ihm, diese archaische, gespreizte, feierliche Form. Richtherr! Derjenige, der das Recht hatte zu richten.
    »Und über wen wollen Sie richten?«
    »Über Sie, Galina.« Maxim war konzentriert und sachlich. Langsam wurde ihm dunkel vor Augen – auch das ein sicheres Anzeichen.
    »Ach ja?« Als sie ihn mit einem raschen Blick musterte, bemerkte Maxim in den Pupillen ein gelbliches Feuer. »Aber ob Sie es schaffen werden?«
    »Werd ich«, erwiderte Maxim und riss den Arm hoch. Der Dolch lag bereits in der Hand, eine schmale dünne Waffe aus Holz, das einst hell gewesen, doch in den letzten drei Jahren nachgedunkelt war, durchtränkt …
    Die Frau gab keinen Laut von sich, als die Holzschneide unter ihrem Herz eindrang.
    Wie stets verspürte Maxim einen Moment der Furcht, eine kurze und sengende Welle des Schreckens – ob er nicht doch einen Fehler begangen hatte? Trotz allem?
    Mit der linken Hand berührte er das Kreuz, das schlichte Holzkreuz, das immer auf seiner Brust ruhte. So stand er da, in der einen Hand den Holzdolch, die andere fest um das Kreuz geballt, stand da, bis die Frau sich zu verändern begann …
    Es ging schnell. Immer ging es schnell: die Verwandlung in ein Tier und zurück in einen Menschen. Für ein paar Sekunden lag ein Tier auf dem Pflaster, ein schwarzer Panther mit erstarrtem Blick und gebleckten Reißzähnen, ein Opfer der Jagd, gewandet in ein Kostüm von strengem Schnitt, mit einer Strumpfhose, die kleinen Füße beschuht. Dann lief der Prozess rückwärts, als schlage das Pendel zum letzten Mal.
    Maxim wunderte sich weniger über diese rasche und in der Regel verspätet einsetzende Transformation als vielmehr darüber, dass die tote Frau keine Wunde zeigte. Der kurze Moment der Verwandlung hatte sie gereinigt, geheilt. Nur ein Schnitt in der Bluse und im Jackett war geblieben.
    »Gelobt seist du, Herr«, flüsterte Maxim, während er auf die tote Tierfrau sah. »Gelobt seist du, Herr.«
    Er hatte nichts gegen die Rolle einzuwenden, die ihm in diesem Leben zugedacht war.
    Dennoch lastete sie schwer auf ihm, der er keine überzogenen Ansprüche hatte.

Eins
    An diesem Morgen merkte ich, dass der Frühling wirklich eingezogen war.
    Noch am Abend hatte ein ganz anderer Himmel über der Stadt gehangen, waren Wolken über Moskau hinweggezogen, hatte es nach feuchtem modrigen Wind und ungefallenem Schnee gerochen. Man wollte sich tiefer in den Sessel hineinkuscheln, eine Videokassette mit irgendeinem grellen und stumpfsinnigen – also amerikanischen – Film einlegen, Kognak trinken und dabei einschlafen.
    Am Morgen hatte sich alles geändert.
    Mit der Geste eines erfahrenen Zauberkünstlers war ein hellblaues Tuch über die Stadt geworfen, durch Straßen und Plätze gezogen worden, als habe man damit die letzten Spuren des Winters weggewischt. Und selbst die Klumpen braunen Schnees, die sich noch in den Ecken und Rinnsteinen fanden, wirkten nicht, als habe der einziehende

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