100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder
hauchdünner Schleier und war verschwunden.
Schluchzend trommelte das Mädchen gegen das Glas. Aber dahinter waren nur noch die toten Augen Onkel Pauls, die sich nie mehr schließen würden.
Alles war wie ein Traum. Aber plötzlich war sie hellwach, und Onkel Paul verschwand nicht wie das Bild ihrer Mutter. Sie wich einen Schritt zurück und preßte die geballte Faust vor den Mund. Die Augen des Erhängten schienen ihr zu folgen.
Mit einem wimmernden Laut wandte sie sich um und lief die Straße hinab. Ihr lautes Weinen war wie ein Signal für das Dorf. Jetzt wußten sie, wo das Unheil geschehen war. Die Angst wich aus ihren Gesichtern. Es überraschte sie nicht, daß es im Haus der Bergen geschehen war. Sie liefen dem weinenden Mädchen entgegen und starrten hinauf zu der gelben Villa, in dessen Tür deutlich die hängende Gestalt zu sehen war.
Dieser dramatische Bericht entspricht ziemlich exakt den Geschehnissen des 19. Mai. Ich habe ihn rekonstruiert, so genau es möglich war, aus zahllosen Gesprächen mit Julia Bergen, Rosa Abbot, der Haushälterin in der Villa, und mit vielen Einwohnern Gehrdorfs.
Der Ort bestand aus nicht ganz hundertfünfzig Häusern und etwa fünfhundert Bewohnern, achtzig Prozent davon Bauern. Sie waren schließlich zugänglich, als sie erfuhren, wer ich war, und daß ich auf meine Weise ihren Aberglauben und ihre Furcht als etwas sehr Wirkliches akzeptierte und bereits mehr herausgefunden hatte, als ihnen lieb war.
Ich bin das, was die Presse nicht immer freundlich einen Geisterjäger nennt. Ich untersuche Spukhäuser und andere Phänomene, die der Durchschnittsmensch als unheimlich bezeichnet. Ich habe mir längst abgewöhnt, etwas Unheimliches darin zu sehen, es sei denn, man wolle in der Offenbarung menschlicher Gefühle etwas Dämonisches sehen.
Eingehende Befragung und Rekonstruktion sind immer meine ersten Schritte in einem Fall. Dann kann ich abschätzen, ob es sich lohnt, einer Sache nachzugehen.
Hier lohnte es sich.
Nicht um der kleinen Julia Bergen willen oder des erhängten Paul Fehrers wegen.
Die interessanteste Persönlichkeit im Zusammenhang mit den Geschehnissen des 19. Mai war Anna Bergen.
Die verstorbene Mutter des Mädchens.
Ich erfuhr von den Vorfällen in Gehrdorf vier Tage später, am 23. Mai. Jemand schickte mir einen Zeitungsausschnitt, in dem von mysteriösen Umständen die Rede war und darauf hingewiesen wurde, daß dies nicht der erste Selbstmord in dem Haus war. Anna Bergen hatte sich vor zwei Jahren erhängt, drei Monate später Christian Bergen, ihr Mann. Die Selbstmordquote war ungewöhnlich hoch für solch ein kleines Nest: achtunddreißig in den letzten drei Jahren.
Ich beschloß es mir anzusehen, vor allem natürlich das Haus der Bergens. Von meinen Mitarbeitern nahm ich nur Willie mit. Es war vorerst nicht mehr als ein Sondierungsbesuch.
Wir kamen am frühen Nachmittag an. Der Ort lag in einem Talkessel, in den eine schmale Straße führte. Wir sahen den Fußweg, den die kleine Julia genommen hatte. Er führte quer durch Viehweiden zur Bushaltestelle an der Bundesstraße außerhalb des Tales.
Alles wirkte sehr abgeschieden.
„Na, was denkst du? Werden wir hier etwas finden?“ fragte ich Willie.
„Ich weiß nur, daß ich nicht hier wohnen möchte“, erwiderte er.
Wir fuhren die schmale Straße hinab. Unten wirkten die gedrungenen Häuser freundlich, nicht mehr so, als duckten sie sich vor irgend etwas.
Eine Frau begegnete uns. In der bäuerlichen Kleidung und dem schwarzen Kopftuch, das sie bei unserem Anblick tiefer ins Gesicht zog, war ihr Alter schwer festzustellen. Sie mochte zwischen dreißig und fünfzig sein. Wir fragten sie nach Bergens Haus. Sie deutete ans jenseitige Ende des Dorfes und sagte schroff: „Es liegt direkt an der Straße. Das letzte.“
Wir nickten dankend und rollten langsam durch das Dorf, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Was wir vor allem sahen, waren Hühner und Ziegen. Sie gingen erst aus dem Weg, als wir sie mit Kühler und Stoßstange an schubsten. Einige Hunde kläfften, und viele Katzen beobachteten uns gleichmütig. Menschen sahen wir keine mehr, obwohl wir das Gefühl hatten, daß man uns beobachtete.
„Nicht sehr anheimelnd“, meinte Willie.
„Wir sind wahrscheinlich Eindringlinge für sie. Aber laß dich nicht täuschen, in diesen abgelegenen Orten sind die Menschen oft abweisend und mißtrauisch. Das muß nicht bedeuten, daß sie etwas zu verbergen haben.“
„Sicher,
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