0731 - Die Blüten-Bestie
Während der nächsten zehn Minuten war die Zeit gleichzusetzen mit dem Begriff Hektik. Dr. Fairmont, Oberarzt und Leiter der Station, vergatterte die unmittelbar Beteiligten dazu, kein Sterbenswort zu verraten. Diese medizinische Sensation sollte zunächst hinter den Krankenhausmauern bleiben. Nichts sollte nach außen dringen, nicht eine Silbe an die Presse, für die Doro Mainlands Erwachen natürlich die Sensation gewesen wäre. Lange genug hatten die einschlägigen Blätter damals über den Fall berichtet.
Zwei Ärzte und drei Krankenschwestern umstanden schließlich das Bett. Obwohl man sie zu den Fachleuten zählen konnte, hatte sich Ratlosigkeit auf ihren Gesichtern ausgebreitet. Sie schauten über das Bett hinweg und gegen das Fenster, durch dessen Scheibe blasses Winterlicht floß und auf den Boden einen Schleier malte.
Im Bett saß Doro Mainland. Steif, etwas verwundert in die Runde schauend. Dazu blaß und leicht lächelnd. Sie hatte noch kein Wort gesprochen, auch jetzt sagte sie nichts, nur der Blick ihrer blau-grünen Augen wanderte in die Runde. Sie hatte sich selbst von dem Tropf gelöst und all den medizinischen Apparaten, die ihr Leben in den letzten beiden Jahrzehnten erhalten hatten, und keiner der Anwesenden traute sich, diese Apparaturen wieder anzuschließen.
Mit einer sehr langsamen Bewegung hob sie ihre linke Hand und strich über das Haar. Es hatte eine fahlblonde Farbe und lag wie ein glatter Fächer um ihren Kopf. Es war regelmäßig geschnitten worden, doch nicht von einem Fachmann. Das Personal hatte sich daran gewöhnt, dementsprechend sah Doro aus. An einigen Enden wirkte es wie ein Kamm mit wenigen Zinken.
Die Hand sank tiefer, wischte über die Stirn, dann die Augen entlang, als wollte sie einen Vorhang zur Seite streichen. Schließlich blieb sie auf der Bettdecke liegen.
Zehn Augen schauten zu. Die Gesichter des medizinischen Personals waren noch immer bleich.
Niemand konnte dieses plötzliche Erwachen begreifen.
Zweiundzwanzig Jahre hatte Dorothy Mainland im Koma gelegen, und nun saß sie da, als wäre die Zeit überhaupt nicht vergangen. Und, was noch hinzukam und ebenso unbegreiflich war, diese junge Frau war in all der Zeit nicht gealtert. Sie war über vierzig, doch sie sah noch immer aus wie zweiundzwanzig.
Ein Phänomen, ein Rätsel, für das es keine medizinische Erklärung gab.
Bisher hatte niemand ein Wort gesprochen. Es blieb Doro Mainland überlassen, das Schweigen zu brechen. Sie war eine zierliche Person mit blasser Haut, auf der sich zahlreiche Sommersprossen verteilten. Die Lippen waren bleich, so daß sie kaum auffielen. Doro öffnete den Mund und fing an zu sprechen. Mit tonloser Stimme sagte sie: »Ich habe Durst…«
Niemand regte sich.
Jeder lauschte dem Klang der Stimme.
»Ich habe Durst«, wiederholte Doro und schlug leicht mit der Handfläche auf die Bettdecke.
Dr. Fairmont reagierte. »Holen Sie der Patientin ein Glas Wasser, Kathy.« Sie war die Schwester, die ihn herbeigerufen hatte.
»Ja, Doc.«
Kathy verschwand hinter einem Vorhang. Das Rauschen des Wassers übertönte kurz das Atmen der Anwesenden.
Doro Mainland holte mehrmals tief Luft, als hätte sie etwas nachzuholen.
»Ich packe es nicht«, sagte der junge Kollege, der erst ein Jahr auf der Station Dienst tat. »Es ist mir unbegreiflich. Das will nicht in meinen Schädel!«
Dr. Fairmont hob nur die Schultern. Ihm erging es nicht anders. Er wußte auch keine Erklärung. Das mußte er mit dem Chef der Klinik besprechen.
Kathy kehrte zurück. Sie war eine Farbige. Ihre Haut sah aus wie Cappuccino. Seit mehr als zehn Jahren tat sie auf der Station Dienst. Sie konnte so leicht nichts erschüttern. Nun aber zitterte das Glas in ihren Händen, als sie sich mit steifen Schritten dem Bett näherte und Doro das mit Wasser gefüllte Glas reichte.
Sie streckte Kathy die Hände entgegen. »Danke«, sagte sie leise und umfaßte das Glas.
Keiner brauchte ihr zu helfen. Mit einer sicher wirkenden Bewegung führte sie das Glas zum Mund und trank einen kleinen Schluck. Dabei schaute sie über den Rand hinweg. Mit dem nächsten Schluck trank sie das Glas aus. Kathy nahm es ihr aus der Hand.
Doro lächelte. »Das hat gutgetan.«
Dr. Fairmont nickte. »Schön, daß es Ihnen geschmeckt hat, Doro.« Er dachte noch immer an die medizinische Sensation und fragte: »Haben Sie auch Hunger, Doro?«
Da strahlte sie. Der Mund lächelte, die Augen glänzten. »Ja, Doktor, ich habe Hunger.«
»Gut, gut«,
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