100 Stunden Todesangst
fuhr
langsam. Er ist zwar kein Raser, haßt es aber im allgemeinen, als
Verkehrshindernis durch die Landschaft zu schleichen. Sein Schneckentempo fiel
auf.
Im Moment
schien er zu erwägen, ob er nochmal umkehren solle.
„Ich
glaube“, sagte er. „der Podbi war sehr enttäuscht. Er hat gehofft, Lorenz wäre
hinüber. Das merkte man doch. Oder? Naja, er war wütend wegen damals. Also ein
erklärliches Verhalten. Jedenfalls bei jemandem, der den Tod für eine gerechte
Strafe hält. Allerdings — wütend erschien er mir nicht. Nicht unter der
Oberfläche, nicht im Herzen, nicht in der Galle. Nein, wütend ist der nicht.
Aber er hat Schiß.“
„Das kannst
du laut sagen“, stimmte Locke zu. „Eine Schweineangst stand dem auf der Stirn.
Und die leeren Flaschen! Sicherlich ein Angsttrinker.“
Sie fuhren
über den Dorfplatz.
Das einzige
Gasthaus hieß ZUM GRÜNEN BAUM.
Über dem
Eingang leuchtete die Lichtreklame einer bekannten Bierbrauerei.
„Wenn ich
nur wüßte, an wen mich seine Stimme erinnert“, meinte Tom. „Ich muß jemanden
kennen, der genauso klirrig dröhnt.“
Gunter hob
die Achseln. „Über die Stimme ist mir noch nie eine Identifizierung (Wiedererkennen) gelungen. Dazu braucht man wohl musikalische Ohren. Das fehlt mir total. Übst
du noch hin und wieder auf der Gitarre, Tom?“
„Hin und
wieder.“
Trotz
Schneckentempos waren sie jetzt über den Dorfplatz gerollt.
Statt auf
die Straße einzubiegen, die in ihrer Verlängerung zur Stadt zurückführt, fuhr
Gunter einen Bogen über den Platz und hielt vor dem Gasthaus.
„Hast du
Hunger?“ erkundigte sich Locke. „Willst du ländlich speisen?“
„Mitnichten.
Den Appetit spare ich mir auf. Für 22.00Uhr habe ich beim Griechen — im Rhodos
— einen Tisch bestellt.“
„Au fein!“
Locke klatschte in die Hände, als wäre schon Weihnachten.
„Nicht für
euch“, sagte Gunter, „sondern für Helga und mich. Wir lassen die Arbeitswoche
genießerisch ausklingen. Das haben wir uns verdient.“
„Hörst du,
Tom!“ stichelte Locke. „So leben unsere Elternteile. Und wir nagen zu Hause am
Butterbrot. Nachdem die Gleichberechtigung der Frau auf dem Vormarsch ist,
sollte endlich auch die Gleichberechtigung der Jugend angesagt werden.“
„Das
verhüte der Himmel“, sagte Gunter. „Ich lade euch zu einem Kaffee ein. Oder
Tee. Kommt ihr?“
Die
Gaststube war ein langgestreckter Raum mit niedriger Holzdecke und
verräucherten Wänden.
Kein Gast.
Die Lampen im Hintergrund brannten nicht. Nur die Biertheke und die vorderen
Tische waren beleuchtet.
Sie setzten
sich, und aus der Küche kam eine hagere Frau mit blondgefärbten Haaren, die am
Scheitel nachdunkelten.
Sie
trocknete die Hände an der Schürze ab und lächelte.
Gunter
bestellte drei Portionen Kaffee.
„Tom und
ich möchten was essen“, sagte Locke. „Als Schlüsselkinder ist das unsere
einzige Chance, zu einer warmen Mahlzeit zu kommen. Kochen Sie auch griechisch,
Frau Wirtin?“
„Leider
nicht. Aber ich habe griechischen Wein.“
„Alkohol
lehnen wir ab. Dann also deutsche Küche.“ Sie überlegte. „Da wir in Eile sind —
ist was fertig?“
Die Wirtin
nickte. „Schweinebraten, Rinderbraten, Kalbsbraten, Bratwurst. Als
internationale Spezialität habe ich Gulasch. Wollen Sie den Tee mit Milch oder
Zitrone?“
„Wir wollen
Kaffee“, erwiderte Gunter.
„Ach so.“
Locke
entschied sich für Bratwurst mit Kartoffelbrei, Tom für Gulasch mit
Kartoffelbrei.
„Siehst du,
Papilein“, lächelte Locke. „Wenn wir auch nicht zum Griechen mitdürfen, um euch
beim Turteln nicht zu stören, so kommen wir doch wenigstens hier auf unsere
Kosten. Schade, daß es keinen Kaviar gibt. Sonst hätte ich den bestellt.“
Der Kaffee
wurde bald gebracht.
Als die
Wirtin wieder zur Küche wollte, hielt Gunter sie zurück.
„Ich hätte
mal eine Frage. Sie kennen doch sicherlich Heinz Podbilska?“
„Den kennt
hier jeder.“ Sie blieb stehen und legte die Hände auf die Hüften.
„Erinnern
Sie sich, ob er voriges Jahr Ende November mal hier war? Oder ob Sie ihn
zufällig auf der Straße gesehen haben?“
„Klar“,
nickte sie. „Am Samstag vor dem ersten Advent hatte der Sportverein seine
Jahreshauptversammlung. Hier bei mir. Das war am 31. November, glaube ich. Der
Heinz ist im Vorstand. Das heißt, er war’s bis dahin. Wurde abgewählt — weil er
vielen nicht paßt. Er hat zuviel auf dem Kerbholz. Und man munkelt noch so
einiges. Er war dann so sauer, daß er
Weitere Kostenlose Bücher