1001 Nachtschichten
Zähne unter. Aber trotzdem wird er vorsichtshalber von Eminanim zurechtgewiesen:
»Mehmet, halt du dich da raus! Ingrid, hör bitte nichtauf meinen Jungen. Auf jeden Fall musst du unbedingt auch noch die Salate kosten – der vielen Vitamine wegen. Das hier ist Kartoffelsalat mit Biokartoffeln und Biozwiebeln, frischer Petersilie aus unserem Kleingarten und freilaufenden Eiern. Das hier ist Nudelsalat mit Hackfleisch, Käse und Joghurt. Und das hier ist Hirtensalat …«
»Mit reichlich klein gewürfelten Hirten drin«, rufe ich, gut gelaunt wie ich nun mal bin, dazwischen.
»Ach, Quatsch, hör nicht auf meinen Mann, Ingrid. Das nennt man auch gemischten Salat! Der wird mit viel Tomaten und Gurken zubereitet«, erzählt Eminanim und schiebt die Salatschüssel demonstrativ zu Ingrid hin.
»Vielen Dank, Frau Engin«, röchelt Ingrid und versucht verzweifelt, der Massen Herr zu werden.
»Bitte, Ingrid, iss doch«, ruft Eminanim wieder. »Bak, yemezsen ölümü gör«, sagt sie. »Osman, übersetz das bitte der Ingrid.«
»Ingrid, meine Frau meint, wenn du nicht isst, dann sollst du ihre Leiche zu sehen bekommen«, übersetze ich wortwörtlich.
»Mutter, wenn du Ingrid weiter so vollstopfst, wirst du gleich
ihre
Leiche zu sehen bekommen! Das arme Mädchen platzt doch gleich! Sie hat früher niemals mehr als zwei Salatblätter am Tag gegessen, um so schlank zu werden, wie Mädchen heute sein müssen«, meckert Mehmet völlig undankbar, obwohl sich seine Freundin inzwischen total glücklich wie ein Kind im Spielzeugladen benimmt.
Ingrid hat mittlerweile alle Hemmungen abgelegt und versorgt sich mit beiden Händen aus zehn Töpfen gleichzeitig. Nach der dritten Portion Şişkebap war das Eisendgültig gebrochen. Dann legte Ingrid los, als wäre sie seit zwei Monaten als Schiffbrüchige im offenen Meer getrieben.
Eminanims Augen strahlen nicht weniger, als die der geretteten Schiffbrüchigen, da sie offensichtlich einem völlig ausgehungerten Menschen soeben das Leben gerettet hat.
Erst mal in Fahrt gekommen, haut sich Ingrid solche Mengen rein, dass es locker für alle Titanic-Überlebenden zusammen gereicht hätte.
Natürlich wird sie dabei von meiner Frau voller Begeisterung tatkräftig und lautstark unterstützt – wie eine 5:0 führende Heimmannschaft von ihren zugedröhnten und ausgeflippten Fans. Nur die La-Ola-Welle fehlt noch in unserem Wohnzimmer.
»Weiter, Ingrid, weiter, mach weiter so! Mehr über links, mehr über links, dort sind die Kichererbsen! Jaaaa, gut sooo, Attackeeee!«
»Mutter, ich bitte dich! Dränge Ingrid nicht so!«
»Jetzt mehr über halb rechts, mehr halb rechts – dort sind die gebratenen Hähnchen – vorwärts, Ingrid!«
»Jaaa, reiß den Hühnern die Hinterbeine ab, dann kommst du an die leckeren Sachen«, brülle ich.
Ingrid ist so in Angriffslaune, dass sie unsere Anfeuerungen überhaupt nicht nötig hat. Womöglich nimmt sie sie nicht mal mehr wahr. Sie futtert wie in Trance!
»Mehmet, sag deiner Freundin, sie soll essen. Sie darf sich bei uns auf gar keinen Fall wie eine Fremde fühlen und sich genieren«, bemüht sich meine Frau ständig, auch ihren Sohn in diese tolle Orgie mit einzubeziehen. »Meh met ,sie soll auch mehr Börek essen, hörst du, mehr Börek! Börek ist sehr nahrhaft, sag ihr das bitte!«
»Ingrid, Börek ist sehr nahrhaft«, wiederhole ich, weil Mehmet überhaupt keine Anstalten macht, seiner Freundin überhaupt noch irgendwas zu sagen.
»Ingrid, iss, meine Tochter, iss! Du sollst später nicht erzählen, Mehmets Eltern haben mir nichts zu essen gegeben und haben mich mit leerem Magen wieder aus dem Haus geschickt«, fleht Eminanim besorgt.
Aber zumindest darüber, dass viel Essen übrig bleiben könnte, braucht meine Frau sich keine Sorgen zu machen. Die dünne junge Frau hat inzwischen mindestens schon das Doppelte ihres Lebendgewichts in sich reingestopft.
Seit einigen Minuten frage ich mich, wie sie das geschafft hat?! Die gute Ingrid hat sich binnen kürzester Zeit von einer Magersüchtigen in eine Fresssüchtige verwandelt. Aber so ist die heutige orientierungslose Jugend nun mal – von einem Extrem ins andere!
In dem Moment kommt meine Frau Eminanim mit einem riesigen Tablett Baklava herein.
»Jetzt darfst du so viel Wasser trinken, wie du willst, Ingrid«, gibt Eminanim weiterhin kluge Tipps, wie ihre Köstlichkeiten zu genießen sind. »Du musst zu Baklava sogar unbedingt Wasser trinken, damit die extreme Süße kein
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