1001 Nachtschichten
durcheinander.
»Los, Osman, schnell, steh schon auf«, höre ich meine Frau für ein Wochenende ungewöhnlich laut und vor allem ungewöhnlich früh an meinem linken Ohr rumkreischen.
»Eminanim, was ist denn los? Zum Glück muss ich wenigstens sonntags meinem Meister keine Geschichtenerzählen, also reg dich ab. Schau auf den Wecker! Es ist erst 4 Uhr morgens!«
»Du sagst es, um diese Zeit ist deine kleine Tochter Hatice soeben aus dem Haus gegangen!«
»Wieso? Ist sie Schlafwandlerin?«
»Das Kind will doch ab heute Zeitungen austragen. Das habe ich dir doch bereits vorgestern erzählt. Du willst unsere Kleine doch nicht bei dieser Dunkelheit alleine durch diese finstere Gegend laufen lassen!«
Hastig ziehe ich mich an und hefte mich an Hatices Fersen. Und hole sie bereits einen Häuserblock weiter ein. Sie zieht eine Karre hinter sich her, die voll mit Zeitungen beladen ist.
»Hatice, was soll denn das Theater um diese Uhrzeit? Bist du verrückt geworden?«, schimpfe ich mit ihr.
»Ich trage Zeitungen aus, wie du siehst«, sagt sie ruhig.
»Warum, bitte schön? Ist unser Fernseher kaputt?« Ich bemühe mich dabei, so gut ich kann, die Ruhe zu bewahren.
»Papa, wo du doch jetzt rausgeschmissen wirst, muss ich schließlich selber Geld verdienen, um alle meine Nachmittagskurse bezahlen zu können«, stöhnt sie, hält den Wagen an und schnappt sich fünf Zeitungen vom ersten Stapel.
»Oh, meine arme kleine Tochter, darüber machst du dir Sorgen?«, bringe ich mühsam zu Tränen gerührt hervor.
»Nein, nicht wirklich. Sorgen mache mir eher darüber, dass du mich dann um Geld anpumpen wirst, weil du selber pleite bist«, sagt sie, geht zu dem Haus und wirft die Zeitungen durch den Türschlitz rein.
»Keine Angst, ich werde dich schon nicht um Geldanpumpen. Aber beim nächsten Mal könntest du deine Kinokarte selbst bezahlen«, rufe ich vergnügt und bereite für das nächste Haus vier Zeitungen vor, so wie es auf ihrer Liste ausgedruckt ist.
Zusammen schaffen wir es, in dreißig Minuten zwei Straßenzüge abzuklappern. Noch eine Straße, und wir stehen vor dem Eingang des alten, finsteren Westfriedhofs, wobei mir sofort gruselig wird.
»Kind, was willst du denn hier«, flüstere ich voller Gänsehaut.
Eigentlich muss man ja auf Friedhöfen laut singen, um keine Angst aufkommen zu lassen.
»Hatiiiceeee, lass uns hier sofort verschwindeeen! Friedhöfe sind nichts für kleine Kiindeeeer«, singe ich laut zur Melodie von ›Dörti Dayäna‹ von Maykl Jäksn. Die Melodie von ›Triller‹ wäre selbstverständlich passender gewesen, aber ich will meiner kleinen Tochter nicht noch mehr Angst einjagen.
»Papa, wir gehen ja sofort wieder! Mach dir doch nicht gleich in die Hose«, lacht sie.
»Aaaber was willst duuu denn hiiieer?«
»Ich muss hier eine Zeitung abgeben.«
»Auf deeem Friehiiedhof?«, kreische ich wie ein Opernsänger.
»Ja, auf das Grab rechts am Eingang. Für Frau Herta Brinkmayer.«
»Das soll doch wohl ein Witz sein!«, brause ich auf.
»Nein, kein Witz. Hier, steht auf meiner Liste, lies doch«, meint sie seelenruhig, schnappt sich eine Zeitung und läuft zum Grab.
»Hatice, mein Kind, ich weiß, dass es ein Fehler war, dass ich dich bis jetzt über den Tod und das Jenseits noch nicht richtig aufgeklärt habe«, singe ich laut hinter ihr her.
»Papa, du hast mich noch nie über irgendetwas aufgeklärt«, singt sie zurück.
»Na ja, kann sein. Aber sei jetzt tapfer. Ich muss dir was verraten: Tote Menschen können keine Sonntagszeitungen lesen. Besser gesagt, sie können überhaupt keine Zeitungen mehr lesen, nicht mal die ›Bravo‹!«
»Bei der Dunkelheit geht das auch schlecht«, lacht sie vergnügt.
Meine Tochter wird sicher mal Satanistin, wenn sie an Friedhöfen solchen Spaß hat!
In dem Moment sehe ich mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen, wie ein Zombie auf uns zu torkelt.
»Bei Allah, Hatice, lass uns sofort abhauen! Hier spukt es gewaltig!«, brülle ich mit pochendem Herzen.
»Papa, was schreist du denn hier so rum? Du weckst ja noch die Toten auf! Der Mann will doch nur seine Zeitung holen.«
»Guten Tag, ihr seid wohl die Neuen, nicht wahr?«, begrüßt uns der Zombie, der für einen dicken toten Mann zu dieser unmöglichen Zeit ganz schön quicklebendig ist. »Ich lasse die Zeitung immer auf dem Grab direkt am Eingang ablegen, damit die Zusteller nicht mitten in der Nacht bis zu meinem Häuschen da hinten laufen müssen. Darf ich euch einen Kaffee
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