1004 - Das Phantom in der Fremde
Händen griff er nach meiner Jacke und verdrehte dort den Stoff. Er war völlig durcheinander, flatterte, und wenn er Atem holte, rasselte es wie Panzerketten.
»Ich habe ihn berührt.«
»Wie? Womit?«
»Mit dem Schwert.«
Er ließ mich los. Dabei ging er etwas zurück. Wäre die Mauer nicht gewesen, er wäre in die Tiefe gefallen. »Berührt«, flüsterte er, »berührt hast du ihn. Mit dem Schwert…« Er stöhnte auf. »Du weißt nicht, was du damit getan hast.«
»Doch, man sieht es.«
»Du hast ihn entweiht.«
»Wie?«
»Du hast mich genau verstanden. Du hast ihn verletzt, du hast ihn entweiht.«
Ich grinste hart. »Kann man eine Steinfigur denn entweihen? Sie ist kein Mensch.«
»Sie ist mehr, Fremder, sie ist mehr. Ich wußte, daß du nur Unglück bringst. Deshalb wollte ich auch, daß du diesen Ort hier verläßt. Ich habe geahnt, was geschieht. Ja, ich wußte es. All die Jahre habe ich diesen heiligen Ort verteidigt. Ich hätte mein Leben dafür gegeben, aber jetzt ist es aus.«
»Wie kann eine Steinfigur bluten?« fragte ich. »Im Gegensatz zu dir sehe ich diesen Vorgang nicht so eng.«
»Es ist nicht nur eine Figur. Es ist der alte König Lalibela.«
»Ja, aber er lebt nicht mehr.«
»Er lebt immer. Er kann nicht sterben. Er lebt in dem, was er hinterlassen hat. Das haben auch die Künstler gewußt, als sie das hier alles schufen. Es ist in dieser Kirche das Allerheiligste, das nun von dir entweiht wurde.« Er konnte sich überhaupt nicht beruhigen. Ich versuchte auch, Verständnis für ihn aufzubringen, was nicht schwer war. Daß diese steinerne Erinnerung an Lalibela allerdings mit seinem Blut angefüllt war, damit hatte ich nicht gerechnet.
Der Alte hatte sich wieder etwas beruhigt. So konnte ich ihm eine Frage stellen. »Wie ist es möglich gewesen, daß sein Blut in diese Figur hineinkam?«
»Ich habe sie nicht gebaut.«
»Was sagen die Schriften, alter Mann? Du kennst sie doch. Du hast sie gelesen.«
»Ja. Und aus ihnen weiß ich, daß niemand diese Stätte entweihen darf.«
»Mehr nicht?«
Er hob die Schultern.
Ich glaubte ihm nicht. Aber ich konnte mir auch keinen Reim darauf machen, wie das Blut in das Gestein gelangt war. Oder man hatte einen anderen Weg beschritten, wobei mir die Säule einfiel, in die der Sims integriert war.
Ich ließ meinen Blick an ihr herab und wieder nach oben gleiten, wobei mir auch das Licht half. In dieser Düsternis war es schwer, farbliche Unterschiede auszumachen. Vom Gefühl her allerdings setzte ich darauf, daß sich die Säule von den anderen farblich unterschied. Und das stimmte auch. Diese hier erschien mir blanker, als hätte man sie irgendwann poliert und immer wieder nachgeputzt, denn Staub sah ich kaum.
Die anderen Säulen standen weiter entfernt. Ich wollte es aber genau wissen und leuchtete über den Rand zu ihnen hin. Der Strahl erwischte eine zweite, ebenfalls dunkle Säule, aber sie sah mir nicht so blank aus.
Ich wollte endlich die Wahrheit hören. Mochte sich der Hüter dieser Kirchen auch noch so ängstlich gegeben haben, unwissend kam er mir nicht vor.
Er hatte sich auch wieder gefangen und schielte mich von der Seite her an. Ich steckte die Lampe wieder weg und nickte dem alten Mann zu. »Ich denke, daß du mir nicht die volle Wahrheit erzählt hast, mein Freund. Es geht mir auch weiterhin um die Säule. Nur um die Säule, nicht um den Sims.«
»Was ist mit ihr?«
»Das wollte ich dich fragen. Kann es nicht sein, daß sie anders aussieht? Sie ist blanker, sie ist auch glatter als die übrigen. Ich habe genau hingesehen und…«
»Sie gehört dazu.«
»Das weiß ich.«
»Und sie ist Lalibela geweiht.«
»Davon gehe ich ebenfalls aus. Weil sie ihm geweiht ist, sieht sie auch anders aus. Sie muß etwas Besonderes sein.«
»Was willst du denn tun?«
Ich ließ mir mit der Antwort Zeit und sagte dann: »Das weiß ich noch nicht genau. Es ist durchaus möglich, daß ich sie einer kleinen Prüfung unterziehen werde.«
»Prüfung? Wie denn?«
»Ich weiß es noch nicht. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, daß du mir einen Tip gibst.«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Dann werde ich es versuchen.« Ich griff zum Schwert, denn nur die Waffe König Salomos würde mir weiterhelfen. Das wußte auch der Bärtige. Er faßte nach meinem Arm, bevor ich das Schwert noch berühren konnte.
»Laß es lieber sein.«
»Warum denn?«
»Laß es!« Er hatte nur diese beiden Worte gesagt, doch seine Stimme hatte sich verändert. Sie
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