1004 - Das Phantom in der Fremde
kniete ich mich nieder.
Sein Gesicht war mir zugewandt.
Mit dem Hinterkopf berührte er die steinerne Geländermauer. Etwas Dunkles war aus seinem Kopf hervorgedrungen und fand seinen Weg nach unten.
War er tot?
In meiner Kehle kratzte der Kloß. Ich hatte es nicht gewollt. So hätte es nicht enden sollen. Ich berührte die Gesichtshaut. Sie fühlte sich an wie ein feucht gewordenes altes Blatt.
Dann wollte ich den Puls des alten Mannes fühlen. Er bemerkte es, ruckte plötzlich hoch, und seine Augen richteten sich auf mich. Er bewegte den Mund und sprach sehr mühsam. Die Worte tropften über seine Lippen hinweg. »Es geht mit mir zu Ende. Ich spüre es…«
»Nein, mein Freund. Ich werde dich hier herausholen und dafür sorgen, daß du…«
»Nicht, Fremder nicht. Du hast wissen wollen, was mit der Säule passiert ist.«
»Das ist jetzt nicht mehr wichtig.«
»Doch, es ist wichtig«, flüsterte er. »Du mußt es wissen. Es geht um das Blut…«
»Blut? Welches?«
»Das Blut in der Säule.«
»Lalibelas Blut?«
»Nein, nicht seins.«
»Aber du bleibst dabei, daß die Säule bluten kann.«
»Das Blut der Feinde«, sagte er mit leiser, spröder Stimme. »In der Säule befindet sich das Blut der Feinde, und er hatte viele. Aber er hat sie alle besiegt: Es ist eine Blutsäule. Er hat die Feinde ausbluten lassen und dann…«
»Nicht mehr reden«, flüsterte ich, weil ich sah, wie sehr es ihn anstrengte.
Seine Hand zuckte. Sie krallte sich in meiner Jacke fest. »Jetzt weißt du es.«
»Ja, das weiß ich.«
»Was willst du tun?«
Ich überlegte mir die Antwort. Wahrscheinlich hatte ich zu lange nachgedacht, denn ich konnte sie ihm nicht mehr geben. Der Mund des Alten zuckte noch einmal auf. Aus ihm drang ein Laut hervor, der mir durch Mark und Bein schnitt. Ein Krächzen, ein Röcheln, das letzte Geräusch in seinem Leben.
Dann war es vorbei.
Sein Gesicht war schon zuvor starr gewesen. Nur in seinen Augen hatte ich noch das Leben gesehen, doch sie waren in den letzten Sekunden gebrochen.
Vor mir lag ein Toter. Ein toter, alter Mann, dessen Namen ich nicht mal kannte.
Ich schloß ihm die Augen und fühlte mich verdammt mies, als ich wieder aufstand. Es waren die Vorwürfe, die automatisch in mir hochdrangen. Ich kam dagegen nicht an. Es war eben das schlechte Gewissen, das sich meldete. Mit einer müden Bewegung wischte ich über die Augen und das Gesicht hinweg. Mein Hals war innen ausgetrocknet, und ich hätte einiges für einen Schluck Wasser gegeben, aber das fand ich in dieser unterirdischen Welt nicht.
Mit müden Bewegungen ging ich los, um das Schwert König Salomos wieder an mich zu nehmen…
***
Durch den Schwung und auch wegen der Glätte der Stufen war es bis zum Ende der Treppe gerutscht und auch noch über die letzte Stufe hinweg. Flach lag es auf dem Boden, und der goldene Streifen in der Mitte schickte mir ein Schimmern entgegen.
Es hatte dem alten Mann kein Glück gebracht, und ich hoffte, daß ich es effektiver und besser einsetzen konnte. Mit beiden Händen umfaßte ich den Griff, hob es hoch und nutzte es als Stütze.
Wieder umgab mich die bedrückende Stille dieser fremden und einmaligen Welt. In diesem Augenblick fühlte ich mich so verdammt allein, und ich hätte etwas darum gegeben, Suko oder einen anderen Freund an meiner Seite zu haben.
Aber er war tausende von Kilometern entfernt und für mich nicht zu erreichen. Ich sehnte mich nach London, denn mir kam zu Bewußtsein, wie einsam ich hier war.
Auch dachte ich wieder daran, was ich auf meiner Zeitreise gesehen hatte.
Mir war der Tod meiner Eltern überdeutlich präsent. Ich hatte schrecklich gelitten, denn auch daran hatte ich nichts ändern können. Wie auch in der Kathedrale von Chartres. Dort war der Mönch Angares gestorben. Zwei Killer hatten ihm das Lebenslicht ausgeblasen, und die beiden wiederum lebten auch nicht mehr.
Alle Menschen, mit denen ich in diesem Fall in Berührung gekommen war, hatten ihr Leben verloren.
Es war wie ein Fluch, der mich umgab und den anderen den Tod brachte. »Der Fluch der Sinclairs«, flüsterte ich. Ich wollte einfach etwas hören, auch wenn es nur meine Stimme war. »Der verdammte Fluch der Sinclairs…« Mir war zum Heulen zumute. Aber ich dachte auch daran, daß man mich schon Wochen zuvor gewarnt hatte.
Da war Donata erschienen. Eben diese längst tote Person, deren Geist mir auch das Schwert des Salomo gebracht hatte.
Danach hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Jetzt
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