1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
Der Mann sollte recht behalten. Er wußte nicht, wie spät es war, als er vor dem Haus Schritte hörte.
Er schaute auch nicht auf die Uhr, in diesem Fall ergab er sich einfach in sein Schicksal.
Der Besucher kam auf sein Haus zu. Seine Schuhe hinterließen auf dem unebenen Weg deutlich ihre Echos. Zudem gab er sich keine Mühe, leise zu sein.
Cesare stöhnte leise auf, als der Besucher die Tür aufdrückte. Dieses Aufstöhnen glich mehr dem Seufzen eines Mannes, der eigentlich keine Lust mehr hatte, sich in sein Schicksal zu fügen, es aber mußte.
»Bist du da, Cesare?«
»Si, ich bin hier.«
»Wo?«
»Wo ich immer bin.«
Der Besucher wußte Bescheid. Wieder klopften seine Schuhe auf den Boden, als er sich der Tür näherte, die zu Caprios Zimmer gehörte. Cesare sah sie wegen der Finsternis nicht, dennoch starrte er gebannt hinaus.
Wie immer protestierten die alten Angeln, als die Tür geöffnet wurde. Davor zeichnete sich die Gestalt des Besuchers ab. Der Mann kam nicht näher, statt dessen nickte er dem Liegenden zu. »Cesare, steh auf, denn es ist wieder soweit.«
»Wann?«
»Jetzt sofort.«
Cesare ließ einige Sekunden vergehen. Dann antwortete er. Die Worte waren von einem tiefen Stöhnen unterlegt. »Ja, ich werde kommen. Es muß ja wohl sein.«
»Richtig, mein Freund. Und vergiß dein Beil nicht.«
***
Jessica konnte nicht mehr weinen. Auch wenn sie sich angestrengt hätte, es wäre ihr nicht mehr möglich gewesen. Sie hatte keine Tränen mehr.
Dafür Angst, eine panische, eine wilde und kaum zu beschreibende Angst vor der nahen Zukunft und vor dem, was ihr bevorstand. Das war furchtbar, das war finsterstes Mittelalter. Das war die Rückkehr in die Jahre der Inquisition. Und alles nur deshalb, weil sie ihr Blut nicht hatte unter Kontrolle bekommen können. Das war eben der Drang, es tun zu müssen, und sie hatte sich nicht mehr dagegen wehren können, auch nicht als verheiratete Frau.
Gut, sie war in die Falle getappt, sie war erwischt worden. Endlich konnten die scheinheiligen Heuchler wieder dem Mund der Wahrheit ein Opfer zuspielen. Diesmal hatte es sie erwischt. Das war Pech.
Sie wußte, was mit den Frauen geschah, die dem Mund der Wahrheit zugeführt wurden. Etwas Schlimmeres konnte man sich kaum vorstellen, und ihr Ehemann, Romano, hatte natürlich zugestimmt. Klar, was hätte er auch anderes tun können? Ihm waren die Hörner aufgesetzt worden, er war lächerlich gemacht worden, und er stammte aus dem Ort. Hier war er geboren, aufgewachsen, und hier würde er auch sterben.
Das Gefühl für Zeit war der Frau abhanden gekommen. Man hatte sie überwältigt, halb bewußtlos geschlagen und anschließend in diesen Weinkeller eingesperrt. Inmitten der großen Fässer war sie an die Wand gekettet worden. Nun wartete sie darauf, daß man sie abholte, um sie der Bestrafung zuzuführen.
Die Menschen waren grausam, und trotz ihrer Doppelmoral erhielten sie immer wieder den Segen des senilen Pfarrers. Er mischte ebenfalls mit. Er schien noch aus den Zeiten der Inquisition zu stammen, denn für ihn war eine derartig fürchterliche Bestrafung einfach heilig.
Der Keller war feucht. Es roch säuerlich, nach alten, ausgequetschten Trauben. Manchmal hatte Jessica auch das Gefühl, ersticken zu müssen, weil die feuchte Luft für sie einfach nicht zu atmen war. Widerlich, sie empfand alles als widerlich, und auch ihr eigenes Leben, dem sie, wäre es ihr möglich gewesen, ein Ende bereitet hätte. Aber getötet werden sollte sie nicht. Der Mund der Wahrheit würde bei ihr für die entsprechende Bestrafung sorgen.
Erlebt hatte sie es selbst noch nie. Sie gehörte noch nicht lange zu den Bewohnern, aber die Frauen im Ort hatten schon genug über diesen Mund berichtet und natürlich davon, wie schlimm er war, denn Gnade kannte er keine.
Wie alt er war und wer ihn letztendlich erschaffen hatte, das wußte sie nicht. Es gab ihn, und damit mußten sich alle abfinden. Die meisten hatten es getan, nur Jessica wollte nicht und hatte sich darüber hinweggesetzt. Mit dreißig Jahren fühlte sie sich noch jung genug, um ausgehen zu können. Sie wollte nicht versauern wie die anderen Frauen, die sich achselzuckend in ihr Schicksal ergaben.
Jessica hatte getobt, geschrieen, geweint. Nichts hatte gefruchtet. Auch wer ihre Schreie gehört hätte, niemand wäre auf die Idee gekommen, sie heimlich zu befreien, selbst ihre eigenen Geschlechtsgenossinnen nicht. Unter ihnen gab es keine Solidarität.
Schlimm war auch
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