1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
ausgesucht worden und konnte sich nicht weigern.
Vor dem Mund der Wahrheit blieb er stehen. Er schaute ihn an und hatte den Eindruck, als wären die Augen von einem unheimlichen und dämonischen Glanz erfüllt. Auch der Mund schien sich verzogen zu haben. Er kam ihm noch breiter und noch offener vor, als wollte er von nun an nicht nur Hände schlucken, sondern auch die Körper der Menschen.
Er traute es ihm zu. Alles traute er ihm zu. Hier hatte der Teufel eine Filiale der Hölle hinterlassen.
Cesare wußte nicht, wo die Hände landeten, wenn er sie in das Maul hineinsteckte. Er hatte auch nie zuvor einen Aufschlag gehört. Sie schienen im Innern des Berges zu verschwinden.
Flavio di Mestre war weggelaufen. Er hörte ihn würgen. Selbst die Geräusche des Wildbachs konnten dies nicht übertönen. Es war seine erste Tat gewesen und vielleicht auch seine letzte, aber so genau wußte man das nie.
Das Maul wartete, und Cesare wollte es auch nicht länger warten lassen. Er drückte zuerst die rechte, dann die linke abgeschnittene Hand hinein, horchte diesmal besonders intensiv, aber auch jetzt vernahm er kein Aufprallgeräusch.
Er schloß die Augen. Was auch immer hinter diesem Maul lag, er wollte es nicht sehen, nicht wissen. Er war nur der Knecht, die Befehle gaben andere, und sie waren es auch, die die Regeln aufstellten.
Mit einer müden Bewegung trat er einen Schritt zurück. Dabei hielt er den Kopf gesenkt. Sein Gesicht zuckte. Er war fertig, er weinte, aber er mußte sich zusammenreißen, und er mußte sich auch um die Frau kümmern, die nicht ausbluten durfte. Ihre Wunden mußten verbunden werden. Kein Blut sollte die Stümpfe verlassen.
»Cesare…!«
Flavios Ruf warnte ihn. Caprio drehte sich um und war im ersten Moment zu erstarrt, um überhaupt etwas tun zu können. Was er sah, glich einem Wunder, allerdings einem verdammt schaurigen. Jessica war aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht. Sie hatte es sogar geschafft, auf die Beine zu kommen und war dabei, die ersten Schritte zu laufen. Ihre Armstümpfe schwenkte sie dabei hin und her. Blut verließ die Wunden und klatschte dabei wie ein roter Regen zu Boden.
Eines stand fest.
Sie wollte weg.
Und sie floh auch, aber sie lief dabei den Weg nicht zurück, sondern bewegte sich schwankend dorthin, wo er sein seitliches Ende hatte und der Abhang begann.
Ihr Vorhaben lag auf der Hand. Jessica wollte sich in die Tiefe stürzen oder einfach nur wegrennen, denn zu steil war der Hang hier nicht, aber dunkel und bewachsen.
Flavio di Mestre tat nichts. Er blieb nur einfach entsetzt auf der Stelle stehen. Einen Arm hatte er zitternd erhoben und wies auf den Rücken der Frau.
Cesare setzte sich in Bewegung. Vielleicht hatte er sie noch schnappen können, doch ihm fehlte der Ansporn.
Tief in seinem Innern dachte er daran, daß es wohl besser war, wenn sich Jessica davonmachte und sich irgendwo verkroch oder einsam sterben würde.
Er bekam sie nicht mehr zu packen. Kaum hatte Jessica die Grenze erreicht, da wuchtete sie sich nach vorn. Sie bekam das Übergewicht, sie schlug auf, und der glatte Boden wurde für sie zu einer Rutschbahn, auf der sie abwärts glitt.
Flavio war ebenfalls neben Cesare stehengeblieben. Er war nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Er starrte in das Dunkel, und er hörte nicht mal die Geräusche der fallenden und rutschenden Frau.
Aus der Tiefe schickte der Wildbach seine brüllenden Echos hoch, die allerdings einmal von einem schaurigen Laut unterbrochen wurden. Zuerst wollten es die beiden Männer nicht glauben, dann aber mußten sie es sich eingestehen. Sie drehten sich ihre Gesichter zu. Auf beiden malte sich der Schrecken ab.
»Sie lacht!« keuchte Flavio. »Verdammt noch mal, sie lacht. Hast du das gehört?«
Cesare nickte. »Ja, ich habe es gehört«, murmelte er. »Ich habe es genau gehört.«
Di Mestre schluckte. »Und was meinst du? Scheiße, sag doch endlich was, Cesare.«
Caprio hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Flavio. Ich weiß es wirklich nicht. Aber etwas glaube ich.«
»Was denn?«
»Das hier ist noch nicht zu Ende. Das geht weiter…«
»Hoffentlich nicht!« keuchte di Mestre, bevor er sich bekreuzigte, was bei ihm schon einer Blasphemie gleichkam.
***
Kimberly Grover konnte nicht mehr lachen, dazu war sie viel zu erschöpft. Und reden wollte sie auch nicht, aber sie fluchte, allerdings innerlich, damit ihr Freund Larry Lutz nichts davon mitbekam, denn er hatte sie zu dieser Frühjahrstour in die
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