1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
weichen, schwankenden Teppich hinweg, und bei jedem Schritt hatte sie Mühe, nicht einzuknicken und zu Boden zu fallen.
Ihr war kalt geworden. Auf dem Rücken lag die dünne Schicht aus Eis, aber das Blut schien zu kochen und verursachte in ihrem Kopf einen regelrechten Hitzestau. Das dumpfe Gefühl wollte nicht weichen, sie zwang sich auch nicht, den Kopf anzuheben, bis zu dem Augenblick, als di Mestre in ihr Haar packte und ihr Gesicht in die Höhe zwang, daß Jessica einfach aufschauen mußte.
Sie waren da.
Ein leiser Aufschrei verließ ihren Mund. Gewollt hatte sie ihn nicht. Es war einfach über sie gekommen. Eigentlich hätte sie in dieser Finsternis kaum etwas sehen müssen, aber vor ihr war der Felsen deutlich zu erkennen, als wäre er an einer bestimmten Stelle von irgendwelchen Metallen eingeschlossen, die einen silbrigen Schein abgaben, so daß sie in der Felswand etwas erkennen konnte.
Die Umgebung war nicht mehr so eng, denn diese Stätte des Grauens lag auf einer kleinen Kanzel.
Erst gut zehn Schritte weiter verengte sich die Umgebung wieder, und dort führte der Höhenweg dann allmählich talwärts einem anderen Ort zu.
»Schau es dir an, du Hure!« zischte di Mestre. »Schau dir das Maul genau an!« Er hielt dabei ihr Haar fest, damit sich Jessica nicht bewegen konnte.
Ja, es war nicht zu übersehen. Bisher hatte sie nur davon gehört und sich auch nicht in die Nähe getraut. Jessica kannte den Ort auch nur aus Berichten, aber sie hätte nicht gedacht, daß er einen so schaurigen und auch gut sichtbaren Anblick bot.
Das Gesicht malte sich deutlich im Felsen ab. Augen, Nase - und natürlich das Maul.
Nein, das war kein Mund mehr, das war schon ein widerliches und breites Maul, das offenstand und dabei in den harten Felsen hineingeschlagen war, der auf sie gar nicht so hart wirkte. Eher wie eine Knetgummimasse.
Die Augen bestanden aus unterschiedlichen Löchern. Das eine war rund, und das zweite hatte sicherlich auch einmal so ausgesehen, aber ein Riß im Felsen reichte bis zu ihm hin und hatte ihm einen schiefen Ausdruck gegeben.
Auch die klumpige Nase zeigte an ihrer Oberseite eine Kerbe, als hätte dort jemand mit einem harten Messer hineingeschnitten.
Im Dorf unten hatte mal jemand dieses Maul mit einem besonderen Briefkasten verglichen und dabei gelacht. Irgendwo hatte dieser Mann sogar recht gehabt. Es war ein Briefkasten, in den jedoch keine Postsendungen geschoben wurden.
Ein aus dem Felsen erhaben vortretender Kreis grenzte das Gesicht genau ein. Damit auch das leichte Strahlen, denn die Umgebung blieb dunkel.
Di Mestre hielt Jessica noch immer fest. »Na, wie gefällt dir das?« fragte er.
Sie schwieg.
Das gefiel dem Kerl auch nicht. »Hat es dir die Sprache verschlagen? Willst du noch immer nicht wahrhaben, daß deine Hände gleich im Maul verschwunden sind? Einfach geschluckt. Einfach weg. Keine Chance mehr. Verschwunden!«
»Laß es, Flavio.«
»He, was ist los, Cesare?«
»Du sollst es lassen.«
»Ja, schon gut.« Er löste seine Hand aus Jessicas Haar, die schwankend auf der Stelle stand und sich am liebsten auf einen anderen Stern gewünscht hätte.
Cesare Caprio nickte ihr zu. »Stell dich an die Wand, Frau.«
Sie zitterte. Sie wollte eine Frage stellen. Die dünne Haut an ihrem Hals zuckte. »Und dann?«
Caprio holte sein Beil hervor. »Muß ich es tun. So sind die Regeln. So haben wir es schon seit langen Jahren getan. Nicht nur ich, auch die anderen. Ich habe es mir nicht ausgesucht. Man wird dazu bestimmt. Untreue Frauen werden auf diese Art und Weise bestraft. Schon seit altersher.«
Auf einmal mußte sie lachen. Sie hatte es nicht vorgehabt, es brach aus ihr heraus. »Und was ist mit den untreuen Männern? Sagt es, was ist mit ihnen? Was hackt ihr denen ab?«
»Nichts.«
»Da passiert nichts, wie?«
»Sie sind unschuldig, die Männer!« flüsterte di Mestre ihr scharf ins Ohr. »Die Männer sind immer unschuldig. Es sind eben die verdammten Weiber, die sie verführen, und dafür müssen sie einfach büßen. Hast du verstanden?«
»Ja, das habe ich. Aber es ist nicht nur ungerecht, sondern schon pervers.«
»Los, komm vor!« sagte Caprio.
Jessica Malfi stemmte sich dagegen. Sie wollte und konnte nicht, aber di Mestre kannte kein Pardon. Er drückte sie auf die Felswand zu und brachte sie dabei in eine bestimmte Richtung. Rechts neben dem Gesicht mußte sich die Frau abstützen.
Sie hatte den Kopf gedreht und schielte zur Seite. So bekam sie mit, wie
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