1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
zuständig war.
Der zweite hieß Flavio di Mestre. Einer von den Jüngeren. Jemand, der Jessica stets so hungrig angeschaut hatte, als wollte er sie mit seinen Blicken entkleiden.
Da hatten sich die Richtigen gefunden, während die anderen im Ort Bescheid wußten, aber schwiegen. Und sie waren ebenso schlimm wie Caprio und di Mestre.
Der Jüngere bückte sich. Er blieb vor Jessica in der Hocke, und sie überfiel ein Zittern, als sie die Messerklinge sah, die er schräg vor ihr Gesicht hielt. »Schau sie dir an, Jessica. Sie wartet auf dich. Sie wird dir deine hübsche, kleine Kehle durchschneiden, wenn du nicht genau das tust, was wir wollen.«
Jessica schwieg. Sie hätte gern sprechen wollen, aber das war ihr einfach nicht möglich. Die Kehle war trocken geworden. Sie brachte einfach kein normales Wort mehr hervor.
»Wenn ich dir jetzt die Ketten löse, meine Kleine, ist noch immer das Messer da.«
Sie nickte nur.
Flavio holte den Schlüssel hervor. Der Rest war ein Kinderspiel. Die Ketten fielen schnell ab. Aber Jessica fühlte sich nicht erleichtert, als sie auf den Boden prallten. Sie war einfach zu schwach, und sie war vom Regen in die Traufe geraten.
»Hoch mit dir!«
Jessica fiel es schwer, dem Befehl nachzukommen, und das war nicht geschauspielert. So griff Flavio selbst zu, und er faßte dabei dort hin, wohin er früher immer so gern gefaßt hätte, es sich aber nie getraut hatte.
Jessica blieb schwankend stehen, so daß Flavio einfach zugreifen mußte. Er stützte sie, was ihm aber nicht gefiel. »Stell dich nicht so an, verdammt!«
»Kann nicht!«
»Scheiße, du…«
»Sie ist wirklich schwach«, sagte Caprio.
»Das hat sie sich selbst zuzuschreiben.«
»Okay, was tun wir?«
»Gib ihr was zu trinken.«
Di Mestre dienerte. »Was denn? Wasser oder Wein?«
»Warte.« Der ältere Caprio ging vor. Neben einem Tisch, der zwischen zwei Fässern stand, blieb er stehen. In unterschiedlich großen Glaskolben lagerte der rote Wein, und Cesare Caprio füllte ein kleines Probierglas.
Damit kehrte er zu Jessica zurück, die sich das Glas zwischen ihre zitternden Hände klemmte, es ebenso zitternd an die Lippen führte und den Rotwein schlürfend trank.
»Das hast du nicht verdient, du Hure!« kommentierte di Mestre. »Man hätte dich Essig saufen lassen sollen.«
»Sei ruhig!« fuhr ihn der ältere Mann an.
»Ist doch wahr, Cesare. Sie ist…«
»Laß uns gehen.«
»Wie du willst.« Flavio hielt die Frau fest, und Jessica war froh darüber, gestützt zu werden. Noch immer glaubte sie, die Ketten an ihren Händen zu spüren, die ihrem Körper arg zugesetzt hatten.
So schlurfte die Frau zwischen ihren beiden Bewachern zum Eingang des Weinkellers. Die halbrunde Tür stand offen. Dahinter zeichnete sich eine blaue, nächtliche Landschaft ab, aus der auch die Schatten der Dolomiten hochwuchsen.
Dafür hatte Jessica keinen Blick. Sie war für einen Moment froh, den Weinkeller verlassen zu können und auch nicht ins helle Licht zu treten, sondern in der schützenden Dunkelheit bleiben zu können, die ihren Augen nicht schmerzte.
Es war so wunderbar, die Luft einatmen zu können. Sie roch frisch, sie duftete und war angefüllt mit dem ersten Gruß des herbeieilenden Frühlings, obwohl weiter oben die Berge noch im tiefen Schnee lagen und sich dort die Skifahrer tummelten.
Aber hier unten, in die engen und oft versteckt liegenden Täler verirrte sich kaum ein Tourist. Hier war die Zeit stehengeblieben, und die Menschen verständigten sich noch in ihrer eigenen Sprache: Ladinisch.
Jessica hielt den Kopf gesenkt. Sie schmeckte noch den gerade getrunkenen Wein. Sie wollte nichts sehen, keinen Blick zurück in das Dorf werfen, in dem die verdammten Heuchler wohnten. Sie würde jetzt zum Mund der Wahrheit geführt werden, wie er schon seit Jahrhunderten im Volksmund hieß.
Die Menschen hier glaubten daran, und sie vermuteten, daß noch mehr dahintersteckte. Daß nicht alles tot oder vernichtet war, auch wenn es so schien.
Deshalb hatten sie auch Angst.
Aber niemand gab es zu…
***
Sie hatten den steilen Weg durch den Wald hinter sich gebracht. Jessica kam es einem kleinen Wunder gleich, daß sie die Strecke überhaupt geschafft hatte, aber Wunder gab es auf dieser Welt nicht, sonst wäre ihr dieses Schicksal erspart geblieben, sie war von den beiden Männern einfach nur angetrieben oder geschoben worden, und das nicht gerade auf die sanfte Tour.
Besonders Flavio di Mestre hatte sich hervorgetan und
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