1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
Fluch schicken, auch wenn du schon tot bist. Dich hat er schon getroffen, aber andere wird er noch treffen. Das garantiere ich!«
Es waren nicht viele, aber starke Worte gewesen, und jeder Trauergast hatte sie verstanden. Selbst der alte Pfarrer sah aus wie jemand, der sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen hätte.
Alle sahen die Frau. Alle sahen, daß ihr die Hände fehlten, aber die hatte bei ihrer Rede die Arme in die Höhe gestreckt, als wollte sie ein besonders schauriges Bild bieten.
Jessica Malfi senkte den Kopf, als wollte sie konzentriert in das offene Grab hineinschauen. In ihrem Mund hatte sie Speichel gesammelt; sie spie die schleimige Ladung in die Tiefe, auf die Erde und den Sarg.
»Das war mein allerletzter Gruß an dich, Romano!« erklärt sie. »Wo immer du dich auch aufhalten magst, jetzt hast du gesehen, was ich von dir halte!«
Es folgte noch ein scharfes Lachen. Sie schickte es über das Grab und über die Mauer hinweg, bis hin zur Kirchenwand, wo es allmählich verklang. Sie hatte gewonnen. Sie war zurückgekehrt, sie war nicht gestorben, und sie hatte ihre Rache angekündigt.
Jessica betrachtete die Wolken. Niemand war da, der sich getraut hätte, näher an sie heranzugehen.
Die Menschen blieben stehen, sie waren entsetzt. Es gab keinen, der diesen Fluch vergessen hätte.
Die meisten wären am liebsten verschwunden, einschließlich der beiden Hauptschuldigen Flavio di Mestre und Cesare Caprio. Aber die beiden blieben ebenso zurück wie der Pfarrer Strassel, der letztendlich der Bestrafung zugestimmt und nichts gegen dieses mittelalterliche Relikt getan hatte.
Die verstümmelte Frau drehte sich um. Sie ließ sich dabei Zeit und kostete jede Bewegung aus. Der Wind spielte mit ihren dunklen Haaren und wehte sie hoch wie eine Fahne. In ihrem Gesicht rührte sich nichts. Es blieb hart, es blieb verschlossen, und der Blick ihrer dunklen Augen war von einer schon brutalen Kälte.
Sie schaute jeden an. Es gab keinen Unterschied. Die Frauen, die Kinder, die Männer. Für sie standen alle auf der anderen Seite und waren ihre Feinde.
Zuletzt konzentrierte sie sich auf zwei Personen. Auf Flavio und Cesare. Die beiden hatten wohl geahnt, was auf sie zukommen würde, und sie zogen die Köpfe ein. Ihre normale Gesichtsfarbe verlor sich. Beide erbleichten, und für Jessica schien es nur sie zu geben, keinen anderen Menschen.
»Na, wie fühlt ihr euch jetzt, wo ihr mich seht. Ihr habt doch euren Spaß gehabt. Besonders du, Flavio. Du hast es nicht erwarten können, mich zum Mund der Wahrheit zu schleppen, damit ich dort meine Hände verliere. Ja, ich habe sie dort verloren, aber ich habe zugleich etwas gewonnen, vom dem ihr nichts wißt. Ich habe erlebt, daß es auch eine andere Seite gibt, daß wir ihr vertrauen können und müssen. Ich weiß jetzt Bescheid und kann mich darauf einrichten. Wer daran denkt, schwach zu sein, unterliegt einem Irrtum. Er muß sich nur an die richtigen Kräfte wenden. Ihr alle habt es gewußt, ihr alle könnt es jetzt sehen, doch manchmal sind bestrafte und behinderte Menschen stärker als die normalen und gesunden. Da ist auch bei mir der Fall, denn ich habe Freunde. Gute Freunde sogar, die mir einen neuen Weg gezeigt haben, die mir auch erklärten, daß es auf dieser Welt noch Gerechtigkeit gibt. Eine Gerechtigkeit, die sich auf meine Seite gestellt hat. Ich bin es, die dafür sorgt. Ich habe den Fluch gesprochen, und ich weiß, daß sich keiner von euch, hier aus Pochavio, auf meine Seite gestellt hat. Ich hatte keine Freunde hier. Für alle war ich das Luder, die Ehebrecherin, die bestraft werden muß, weil die alten Regeln es so vorschreiben. Keiner hat sich gegen sie gestemmt. Nicht mal euer Pfarrer. Das alles habe ich mir sehr genau gemerkt, und ich habe nichts, aber auch gar nichts vergessen. Für euch ist das Mittelalter noch nicht vorbei, aber ich sage euch, daß ich ebenso denke. Ja, jetzt denke ich so, denn auch ich werde zu Methoden greifen, die dem Mittelalter ähnlich sind. Ich bin mittlerweile stark genug, um mich rächen zu können, und ich werde mir jeden von euch vornehmen. Ihr kommt alle an die Reihe, denn ihr habt zugeschaut. Keiner von euch hat sich auf meine Seite gestellt. Ihr habt auf den Mund der Wahrheit vertraut. Ich vertraue auch auf ihn, denn dieser Mund wird zurückschlagen. Er hat es mir versprochen, ich weiß über ihn mehr als ihr. Für euch ist er nur eine Legende, für mich ist er mehr, denn ich weiß genau, welche Kräfte
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