1010 - Das Geheimnis der blutigen Hände
Sarg mit dem toten Romano Malfi zu dem frisch ausgehobenen Grab. Die Grube wartete darauf, die Leiche schlucken zu können. Flavio wußte aber, daß der Fall damit noch nicht erledigt war. Er ging weiter. Er glaubte Jessica jedes Wort. Die hatte einfach keinen Grund, um Lügen zu verbreiten. Hier war erst ein Anfang gemacht worden, das dicke Ende kam noch nach.
Flavio schwitzte, obwohl es kühl war. Er und Cesare gehörten zu den beiden vorderen Sargträgern.
Mochten die anderen Trauergäste, die hinter dem Sarg hergingen, auch mit einer gewissen Achtung an den Toten denken, di Mestre tat es nicht. Seine Gedanken drehten sich quälend um ganz andere Dinge. Er fragte sich, wem er sich noch anvertrauen konnte. Selbst das Läuten der Totenglocke überhörte er. Für ihn war die Welt zu einem Chaos geworden, in dem er sich zunächst einmal zurechtfinden mußte, was fast unmöglich war.
Wem konnte er sich noch anvertrauen?
Er wußte es nicht. Im Ort hatte er nur wenige Freunde, und auch Cesare war nicht eben sein Freund, sondern einfach nur jemand, mit dem man sich zusammengetan hatte, weil es einfach so sein mußte und es die alten Regeln vorschrieben.
Vielleicht der Pfarrer?
Er hieß Guido Strassel, stammte aus Südtirol, war kein Italiener und schon so alt, daß er längst hätte pensioniert werden müssen. Aber es gab wohl keinen Nachfolger, der seinen Job in einem Kaff wie Pochavio übernommen hätte.
Ob Strassel siebzig oder achtzig Jahre als war, das konnte niemand so recht sagen. Jedenfalls sah er aus wie der Tod auf Urlaub. Sein Gesicht konnte den kleinen Kindern Angst machen, denn über die Knochen spannte sich dünn die von braunen Altersflecken übersäte Haut. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und die Nase ragte spitz und weit aus dem Gesicht hervor. Wie der Schnabel eines Vogels.
Strassel war alt, und er ging auch wie ein alter Mann vor dem Sarg her. Seine Schritte wirkten marionettenhaft. Er schwankte von einer Seite auf die andere. Jeder rechnete damit, daß er fallen würde, aber er hielt sich auf den Beinen und stolperte auch nicht über die alten Bohlen, die das frisch ausgehobene Grab umgaben.
Auf dem Kopf saß die dunkle Mütze des Geistlichen. Unter dem Rand ragten die dünnen, weißen Haare wie Fransen hervor, und der Wind spielte mit ihnen.
Die Sargträger waren auch diejenigen, die die Totenkiste in die Grube gleiten ließen. Sie kannten sich aus, sie hatten es schon oft getan, und so senkte sich der Sarg in das Grab neben der Friedhofsmauer. Die Männer richteten sich wieder auf, bekreuzigten sich, und Flavio zischte Cesare einige Worte zu. »Ich muß unbedingt mit dir reden.«
»Wann denn?«
»So schnell wie möglich.«
»Um was geht es?«
»Sage ich dir gleich.«
»Jessica?«
»Halt dein Maul!«
»Schon gut.«
Die Sargträger traten zurück, weil sie Platz für den Pfarrer, die beiden Meßdiener und die anderen Trauergäste schaffen wollten, die einen der ihren auf seinem letzten Weg begleiten wollten.
Frauen, Männer, auch Kinder. Der Tod gehörte zum Leben. Und gerade hier im Ort mußte jeder Abschied nehmen, wenn einer aus ihrer Mitte genommen worden war.
Bei dem Ermordeten hatten sie auf die alten Rituale der Totenwache verzichtet. Ihn wollten sie so schnell wie möglich unter der Erde wissen, denn ein jeder schien hier ein schlechtes Gewissen zu haben. Das sah di Mestre den Leuten an, als er ein Stück zurückgetreten war, damit er sie beobachten konnte.
Wenn die Mienen Trauer zeigten, dann war es seiner Meinung nach gespielt. Die Gesichter wirkten bedrückt, manche verkniffen, und es gab nicht wenige, die ihre Blicke nur über den Friedhof und auch über ihn hinweg bis hin zu den Bergen schweifen ließen, als könnten sie dort den Namen des Mörders ablesen.
Der Pfarrer ließ sich einen Weihrauchkessel reichen und bedampfte damit das Grab. Er würde eine Rede halten, aber diese würde nur kurz werden, denn es gab über den Toten nicht viel zu sagen.
Außerdem schien auch der Pfarrer ein schlechtes Gewissen zu haben, jedenfalls sah er nicht eben normal aus.
Auch seine Stimme hörte sich anders an. Die Worte drangen dünn aus dem schmallippigen Mund.
Flavio di Mestre wußte nicht, wer dem Mann alles zuhörte, er jedenfalls tat es nicht, denn er hatte sich seinen Freund Cesare zur Seite gezogen und redete mit ihm.
»Hörst du mir jetzt zu?«
»Ja, verdammt, was ist denn?«
»In der Nacht habe ich sie noch gesehen.«
»Wen denn?«
»Jessica Malfi.«
Caprio
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