1036 - Die Psychonauten-Hexe
sie sich dem Teufel hingegeben oder sich um die alten Beschwörungen gekümmert. Sie war eben so geboren worden. In ihr steckte ein geheimnisvolles Erbe, über das sie selbst nicht genau Bescheid wußte. Nur manchmal spürte sie einen harten Druck an der Stirn, als wäre etwas Bestimmtes dahinter.
Der Mann schob sie nach draußen, ohne sie loszulassen. Ein Windstoß fuhr in die beiden Fackelflammen und drückte sie nicht nur nieder. Er bewegte sie auch so zur Seite, daß Hitze und Gestank das Gesicht der Frau streiften.
Harter Schnee knirschte unter ihren Füßen. Bei jedem Schritt hörte es sich für Marianne an, als würde Glas brechen. Die Kälte biss gegen ihre Haut, als wollte sie den Schweiß dort zu Eiskristallen festfrieren lassen.
Sie wurde durch die Lücke zwischen den Fackeln geführt und dann gestoppt.
»Laß sie los, Alois!«
Der kleinere Mann gehorchte.
Mühsam hob Marianne den Kopf.
»Schau nach vorn!« sagte der Mann mit dem Hirschfänger. »Schau nur nach vorn. Noch hast du Gelegenheit, alles zu sehen. Bald wirst du ein Mittelpunkt sein.«
Marianne wußte, was der Kerl damit gemeint hatte. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen gehalten, doch sie überwand sich und blickte in die angegebene Richtung.
Es war ein heidnisches, makabres, aber auch schönes Bild. Vor ihr, verteilt in einem Hochtal, loderten bereits die ersten Feuer. Sprühende und tanzende Feuerinseln unter einem sternenbedeckten Himmel. Lichter und Schatten, die sich ständig veränderten und den Eindruck erweckten, als wären Monster aus der Tiefe des Bodens gestiegen, um nach der Natur zu greifen und sie zu zerstören.
Es waren die Feuer, die den Winter austreiben sollten. Ein sehr alter Brauch, der jedes Jahr stattfand. Dort kamen die Geister und mischten sich als verkleidete Menschen unter das Volk. Aber sie hatten keine Chance. Der Winter sollte vorbei sein, und die Dämonen der Kälte wurden in den Feuern verbrannt.
Da hingen sie dann als sorgfältig hergestellte Puppen an den Stangen, die tief in die Scheiterhaufen hineinragten, um vom Feuer zerrissen zu werden.
Das Verbrennen der Geister.
Immer wieder.
Jedes Jahr.
Keine echten Geister, Puppen, die von den Menschen sorgfältig hergestellt worden waren, um zu einem Raub der Flammen zu werden. Aber keine Menschen.
Marianne war, als hätte Alois ihre Gedanken erraten, denn er fing an zu kichern. Erst als dieses widerlich klingende Lachen vorbei war, sprach er sie an.
»Einer ist für dich, Hexe, nur für dich allein…«
***
Der Himmel war zum Greifen nah!
Ein Traum. Einfach unbeschreiblich. Ein Bild, das der Betrachter nur in den Bergen erlebte. Ein dunkelblaues Meer mit strahlenden Punkten, die sich ständig vermehrten, je länger Menschenaugen in den Himmel schauten und dabei immer neue Entdeckungen machten.
Das Augenpaar, das den Nachthimmel so intensiv beobachtete, gehörte einem Mann namens Harry Stahl. Auch er war fasziniert von diesem wunderbaren Bild, und der Balkon des Hotelzimmers lud nahezu dazu ein, nach draußen zu gehen und einen sehr langen Blick auf den Himmel zu werfen, bei dem selbst der fast volle und kalt wirkende Mond nichtauffiel, weil eben die Pracht der Sterne überwog.
Mitternacht war vorüber. Harry war wach geworden. Hellwach sogar. Es hatte ihn nicht mehr im Bett gehalten, und so war er nun, eingehüllt in einen Bademantel, auf den Balkon getreten, um diesen prachtvollen Anblick zu genießen.
Das kleine Hotel lag am Rande von Oberstdorf. Wer hier wohnte, bekam nichts vom Touristentrubel in der Stadt mit. Er war für sich allein und in der Lage, die Natur zu genießen. Das normale Leben lief an dieser Oase vorbei, in der der Gast noch Gast war und von freundlichem Personal umsorgt wurde.
Harrys Blick richtete sich in Richtung Süden, wo für manche Menschen die Welt praktisch beendet war, denn querstehende Berge sorgten dafür, daß niemand hindurchkam.
Es gab keine Straße. Sie endete im Kleinwalsertal, danach war Schluß. Um nach Österreich oder in die Schweiz zu gelangen, mußte ein großer Umweg gefahren werden, aber dort wollte Harry auch nicht hin. Er blieb in Oberstdorf und in diesem kleinen, aber wunderschönen und gemütlichen Hotel, in dem er sich so wohl fühlte.
Er und die Frau, die hinter ihm im Zimmer lag und schlief. Es war Dagmar Hansen, seine Kollegin und auch Partnerin, die mit ihm nach Oberstdorf gefahren war.
Wenn er es genau nahm, war es umgekehrt gewesen. Eigentlich hatte Dagmar ihn zu dieser Fahrt
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