Beruehre meine Seele
1. KAPITEL
Ich hatte immer gedacht, der Tod wäre das Schlimmste, was jemandem zustoßen könnte. Außerdem war ich immer davon ausgegangen, es wäre auch das Letzte , was demjenigen passieren könnte. Doch wenn ich etwas begriffen hatte, seitdem ich mit Reapern, lebendigen Albträumen und anderen Banshees rumzuhängen pflegte, dann dies: Ich lag mit beiden Annahmen daneben, und zwar auf ganzer Linie …
„Was tust du denn schon hier?“, fragte ich, während ich mich vier Minuten vor Beginn der ersten Stunde auf meinen Platz setzte. „Überpünktliches Erscheinen zur Mathestunde. Also wenn das kein sicheres Anzeichen für eine dramatische Verschiebung des Raum-Zeit-Gefüges ist. Wie viel Zeit bleibt uns noch bis zum Weltuntergang?“
„Keine Ahnung. Aber falls die Welt untergeht, dann bitte jetzt. Mit dieser herrlichen Aussicht stirbt es sich bestimmt leichter.“ Emma seufzte und zog ihr Übungsbuch aus der Tasche auf ihrem Schoß.
Ich folgte dem verklärten Blick meiner besten Freundin zum vorderen Teil des Klassenraums, wo Mr Beck – der neu eingestellte Ersatz für unseren erst kürzlich verstorbenen Lehrer Mr Wesner – gerade dabei war, verschiedene mathematische Fragestellungen an die Tafel zu schreiben. Die Zahlen waren absolut perfekt nebeneinander angeordnet, wie mit einem Lineal ausgemessen. Dieser Mann besaß unter allen Lehrern an der Eastlake High eindeutig die sauberste Handschrift, die ich je gesehen hatte. Emmas Aufmerksamkeit orientierte sich jedoch einen halben Meter unterhalb der Zahlenreihen auf die Rückseite von Mr Becks Jeans, die dank einer als „lockerer Freitag“ bezeichneten Änderung der sonst strengen Kleidervorschriften neuerdings erlaubt war. Zweifelsohne schien Mr. Beck überdies auch sehr viel mehr Wert auf körperliche Fitness zu legen als der durchschnittliche Lehrer an unserer Schule.
„Und dein plötzlich entbranntes Interesse an Mathematik ist natürlich rein wissenschaftlicher Natur, richtig?“
Emmas Lächeln wurde zu einem verschmitzten Grinsen, während sie das Buch vor sich auf den Tisch legte und es an der mit einem lilafarbenen Lesezeichen markierten Seite aufklappte. „Ich weiß nicht, ob ‚rein‘ der treffende Ausdruck ist. Sagen wir mal so: Mir ist leider noch keine Möglichkeit eingefallen, mich dem akademischen Teil in diesem auf Wissensvermittlung fixierten Umfeld komplett zu entziehen. Und das Beste, worauf wir armen Schüler hoffen können, ist etwas Hübsches zum Anschauen, das uns ein bisschen über den Schmerz des alltäglichen Lernprozesses hinwegtröstet.“
Ich lachte. „Bravo. Gesprochen wie ein Lernmuffel aus Überzeugung.“
Emma hätte eine glatte Einserschülerin sein können, würde sie mit etwas mehr Elan an die Sache herangehen. Aber sie war völlig zufrieden mit ihrem Zweierdurchschnitt, für den sie nicht viel tun musste. Abgesehen von Französisch und Mathematik. Die beiden einzigen Fächer, in denen sie nicht einfach alles aus dem Ärmel schüttelte. Und die Anwesenheit des scharfen neuen Mathelehrers hatte bisher auch nicht dabei geholfen, ihre Noten zu verbessern. Im Gegenteil. Dank der Ablenkung in Person war ihre Begeisterung für das, was an der Tafel und im Buch stand, an einem neuen Tiefpunkt angelangt.
Nicht, dass ich es ihr verübeln konnte. Mr Beck gehörte eindeutig zu den Leckerbissen der Männerwelt; mit seinen dunklen, leicht verwuschelten Haaren, den strahlenden grünen Augen und ausgelatschten Turnschuhen, die er immer trug, sogar zu ordentlich gebügelten schwarzen Hosen.
„Er ist erst zweiundzwanzig“, informierte Em mich, als sie meinen unbeabsichtigt schmachtenden Blick bemerkte. „Frisch vom College. Ich wette, das hier ist seine erste richtige Anstellung als Lehrer.“
„Woher weißt du, wie alt er ist?“, tuschelte ich, während Mr Beck den Stift absetzte, die Schublade seines Schreibtisches aufzog und suchend darin herumkramte.
„Hat mir ein Vögelchen gezwitschert. Danica Sussman. Irgendwie ist sie in den Genuss gekommen, Einzelnachhilfe bei ihm zu haben, damit sie in Mathe nicht durchfällt und im Softball-Team bleiben kann.“
„Wo ist sie überhaupt?“, fragte ich über den gerade verhallenden letzten Ton der Glocke hinweg, die den Beginn der ersten Stunde ankündigte. Danica hatte in den vergangenen paar Tagen wegen Krankheit gefehlt, was so weit nichts Außergewöhnliches war. Aber dass sie auch heute zu Hause blieb, wunderte mich. Wenn ein Spiel stattfand, zu dem sie aufgestellt war,
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