1044 - Die Braut des Engels
gekommen. Es hätte beinahe schlimm ausgehen können, aber Evita stand noch immer auf dem gleichen Fleck, und meine Stimme hatte sie erschreckt.
»John«, sagte sie nur. Es klang etwas weinerlich.
»Geh weg, Evita.«
»Wohin?«
»Nur zurückziehen.«
Bei jedem Wort war ich weiter vorgegangen, denn für mich war nur Kalim interessant. Und ich für ihn, denn Jane und Evita interessierten ihn nicht mehr.
Er stierte mich an, und er stierte auf mein Kreuz. Wärme und Kälte, Licht und Schatten – das alles malte sich auf der Oberfläche ab als ein wechselvolles Spiel. Je näher ich kam, um so stärker wurde auch das Kreuz in Mitleidenschaft gezogen. Ich wollte den Engel bannen, denn ich dachte daran, daß er sich in seine Welt zurückziehen und von dort aus agieren konnte. Erlebt hatte ich das in Lilians Wohnung, als mir die Bücher gestohlen worden waren.
Er sah das Kreuz.
Er zog sich zurück. Er tat es auf seine Weise und krümmte sich zusammen. In seinem Gesicht veränderte sich etwas. Mein Kreuz war eine Waffe des Lichts, das auch in ihm steckte. Zugleich war bei Kalim noch die Dunkelheit einer höllischen Welt vorhanden, die zusammen mit dem Licht das Gleichgewicht hielt und seine Existenz garantierte.
Nun hatte das Licht Verstärkung bekommen, und die Dunkelheit konnte sich nicht mehr halten. Sie kämpfte verzweifelt dagegen an, was für uns auch sichtbar wurde.
Eine Körperhälfte bei ihm veränderte sich. Zugleich schickte mein Kreuz vom Mittelpunkt her die hellen Strahlen aus, ohne daß ich es aktiviert hatte.
Kalim jaulte auf.
Nein, das war nicht das Jaulen eines Hundes, obwohl es damit Ähnlichkeit aufwies. Er war zusammengesackt, und er wollte wieder in die Höhe kommen. Dazu war er zu schwach geworden. Er kroch über den Boden hinweg. Er legte sich hin, er drehte sich, und die dunkle Hälfte an seiner linken Seite verschwand immer mehr.
Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Die Gestalt wurde vernichtet.
Allerdings auf eine andere und bestimmte Art und Weise. Denn hier schluckte das Licht die Dunkelheit, und der Schatten des Bösen verkleinerte sich immer mehr.
So hatten wir als Zuschauer den Eindruck, als würde sich der Engel mit jeder seiner wilden Bewegungen mehr und mehr auflösen.
Es stimmte sogar, denn Kalim verschwand.
Es gab keine Umrisse mehr. Der Schatten war weg. Das Licht hatte ihn gefressen, und nur allein das Licht war noch vorhanden. Doch auch in ihm zeichnete sich keine Engelgestalt mehr ab. Sie war eingegangen in das normale und trotzdem unnatürliche Licht, ohne daß sich eine Kontur abzeichnete.
Mir war nicht klar, wie lange dieser Vorgang gedauert hatte. Aber ich hatte das gleiche gesehen wie auch Jane und Evita.
Es gab ihn nicht mehr.
Nackt kam Jane auf mich zu. Ich stellte es nur am Rande fest.
»John, verstehst du das?«
Ich hob die Schultern. »Ja und nein, obwohl ich weiß, daß es keine Antwort ist. Kalim gibt es nicht mehr. Er ist vernichtet. Das Licht hat ihn geschluckt.«
»Aber er konnte doch…«
»Nein, er konnte nichts, Jane.« Ich hob die Schultern. »Er wollte beides. Hölle und Himmel. Engel und Teufel sein, wie auch immer. Und er wollte Götter zeugen.«
»Ja«, flüsterte sie. »Das kann ich nur bestätigen.«
Ich wurde etwas philosophisch, als ich weiter sprach. »Ob Mensch oder Engel, man kann nicht alles haben. Man muß sich in seiner Existenz für eine Sache entscheiden. Er hat es nicht getan und hat dafür bezahlen müssen, denn durch mein Kreuz, das er durchaus beeinflussen konnte, hat das Licht genügend Kraft erhalten, um die dunkle Seite und damit auch Kalim zu zerstören.«
»Dann gibt es für uns nichts mehr zu tun«, sagte Jane.
»Für dich schon.« Ich grinste sie an. »Du solltest dich anziehen, meine Liebe.«
***
Es war noch nicht beendet, auch wenn wir es angenommen hatten.
Wir drei wurden davon überrascht, als es hier oben so etwas wie eine lautlose Verpuffung gab.
Es war schlecht zu beschreiben. Plötzlich zog sich das Licht zusammen. Es raste von allen Seiten auf einen bestimmten Punkt in der Mitte des Raumes zu, und das war der Thron. Dort ballte es sich zusammen, um einen Moment später auseinanderzufliegen.
Wir standen schon fast an der Treppe und konnten nur zuschauen, wie auch die letzten Reste des Engels verschwanden, und die normale Dunkelheit des Abends sich durch die Scheibe drückte.
»Wo ist denn das Licht hin?« flüsterte Evita erstaunt.
Es war schwer, ihr eine Antwort zu geben. Ich versuchte es trotzdem.
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