105 - Das indische Tuch
alten Familie zu sein. Wo ist Mr. Tanner?«
»Ich habe ihn eben in Mr. Kelvers Zimmer gesehen. Er telefonierte dort nach London.«
Sie lächelte ihm freundlich zu.
»Ich werde ihn holen, selbst wenn er sich im Zimmer meines Butlers aufhält.«
»Lieber Himmel«, sagte er halb zu sich selbst, als sie gegangen war, »die Frau gehört mit ihren Ansichten ja noch ins Mittelalter!«
»Aber sie lebt in der Jetztzeit«, antwortete Isla bitter.
»Wie merkwürdig!« Ferraby schüttelte den Kopf. »Daß ich zur Familie des Lords Lesserfield gehöre, hat großen Eindruck auf sie gemacht. Natürlich kenne ich ihn, er ist ein unintelligenter Mensch und hat Geld noch nötiger als ich.«
Es trat eine Pause ein. Isla schaute auf und bemerkte, daß er sie betrachtete.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum sind Sie so nervös?«
Isla versuchte, ihm auszuweichen.
»Ich habe Lady Lebanon eben gesagt, daß Sie mich nicht ausfragen.«
»Und nun habe ich es doch getan. Aber es geschieht nur um Ihretwillen. Warum sind Sie so unruhig?«
»Bin ich das wirklich?« fragte sie unschuldig.
»Ja, dauernd sehen Sie sich um, als ob Sie sich vor jemand fürchteten oder als ob jemand aus einer Geheimtür treten könnte. Ich bin davon überzeugt, daß es in einem so alten Haus geheime Türen und Gänge gibt – aber wovor haben Sie eigentlich Angst?«
Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Vor der Polizei!«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie müssen doch wissen, was vorige Nacht passierte – davor fürchte ich mich!«
Er war mit ihrer Antwort noch nicht zufrieden.
»Sie sind aber schon lange Zeit in dieser Gemütsverfassung.«
»Woher wissen Sie das?« fragte sie schnell.
Er vergaß plötzlich, daß er Polizeibeamter war.
»Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen helfen …!«
Sie sah zu ihm auf, und es lag Argwohn in ihrem Blick.
»Sie wollen, daß ich mich Ihnen anvertraue – wünschen Sie das in Ihrer Eigenschaft als Beamter?«
Er hätte mit Ja antworten müssen, denn es war seine Pflicht, alle ihre Geheimnisse zu erforschen, aber er konnte es nicht übers Herz bringen.
»Ich habe mir eigentlich unter einem Polizeibeamten etwas anderes vorgestellt«, sagte sie unerwartet.
»Das kann eine große Beleidigung, aber auch ein Kompliment sein. Sie haben doch keine Angst vor mir? Das ist unmöglich!«
»Warum?«
Auf diese Frage wußte er keine Antwort.
»Sie irren sich, ich fürchte mich vor nichts.« Sie sah sich schnell nach der Treppe um. »Dort drüben ist jemand«, fuhr sie leise fort. »Man belauscht uns.«
Er eilte sofort hin und schaute hinauf, konnte aber niemand sehen. Als er zurückkam, war er sehr nachdenklich geworden.
»Sind denn alle Leute hier im Schloß so ängstlich und fürchten immer, daß sie belauscht werden? Als Lord Lebanon heute morgen nach Scotland Yard kam, hatte er dieselbe Sorge. Es muß doch etwas in diesem Haus vorgehen, unter dem Sie alle leiden. Was ist das nur? Worin besteht das Geheimnis von Marks Priory?«
Sie lächelte gezwungen.
»Das klingt fast wie der Titel eines Sensationsromans, in dem Mr. Tanner die Hauptrolle spielt. Ist er eigentlich sehr klug?«
»Ja, er ist der bedeutendste Mann in Scotland Yard. Er hat eine Begabung dafür, die Wahrheit herauszubringen.«
»Wen hat er denn jetzt im Verdacht?«
Ferraby mußte lachen.
»Solange der Fall nicht geklärt ist, sind alle möglichen Leute verdächtig.«
Zu seinem Erstaunen trat sie plötzlich dicht zu ihm und faßte ängstlich an den Aufschlag seines Rocks. Sie war aufgeregt; er fühlte, daß sie zitterte.
»Ich möchte Sie etwas fragen – nehmen wir einmal an, jemand wüßte, wer die schrecklichen Morde begangen hat … Wenn er es nun nicht der Polizei sagte, wenn er es für sich behielte … wäre das ein Vergehen?«
»Ja, nach englischem Gesetz kann der Betreffende wegen Mittäterschaft angeklagt werden.«
Es tat ihm leid, daß er das gesagt hatte, als er sah, welchen Eindruck seine Worte auf sie machten.
»Wer etwas über ein Verbrechen weiß, muß es bekanntgeben. Vielleicht fällt es Ihnen leichter, wenn Sie es mir mitteilen?«
Aber im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder gefaßt.
»Ich weiß nicht, wie ich darauf kam. Warum sollte ich etwas über die Morde wissen? Sie meinen, weil ich so nervös bin? Sie sind natürlich an dergleichen gewöhnt, Ihnen fällt es nicht auf die Nerven, weil Sie nur mit solchen Dingen zu tun haben.«
»Aber dieser Fall hat eine sehr große Bedeutung
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