105 - Das indische Tuch
verheimlichen. Wenn Sie nichts erzählen, ist das nicht zum Nutzen anderer Leute, im Gegenteil, Sie lenken nur den Verdacht auf sie. Wann kam Ihr Mann heim? Hatten Sie sich schon zur Ruhe gelegt?«
Sie nickte.
»Hat er Sie aufgeweckt? Wann war das?«
»Etwa um eins. Ich hörte, daß das Wasser in der Küche lief – sie liegt direkt neben meinem Schlafzimmer –, und ich stand auf, um nachzusehen.« Plötzlich ließ sie den Kopf hängen und schluchzte heftig.
»Ach, es ist furchtbar, nun sind sie alle beide tot – Amersham auch!«
Er wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte.
»Mrs. Tilling, Sie tun mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir alles genau erzählen, was in der vergangenen Nacht passiert ist. Sie wissen viel, worüber Sie noch nicht gesprochen haben. Wann wird Ihr Mann denn zurückkommen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie und unterdrückte ein Schluchzen. »Hoffentlich kommt er mir nie wieder in die Quere.«
»Wohin ist er denn gegangen?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Also, Sie hörten, daß die Wasserleitung aufgedreht wurde. Was machte er denn in der Küche? Hat er sich gewaschen?«
»Nein – er hatte eine Schramme«, erwiderte sie und versuchte, harmlos zu sprechen. »Er hatte sich an der Weißdornhecke gerissen.«
»An der Hand?«
»Ja, aber es war nicht schlimm.«
»Hat er sich an beiden Händen verletzt?«
Sie antwortete nicht.
»Sicher haben Sie ihm beim Verbinden geholfen. Erzählen Sie doch, Mrs. Tilling. Haben Sie Verbandmull benutzt?«
»Nein, er machte es mit dem Taschentuch. Die Schnitte waren außerdem nicht tief.«
»Hatte es eine Schlägerei gegeben?«
Sie senkte den Blick.
»Ja, ich glaube«, entgegnete sie nach einer längeren Pause. »Er hat ja ständig Streit.«
»Hat er sich auch umgezogen, bevor er fortging?«
Sie sah ratlos von einer Seite zur anderen, wie jemand, der in die Enge getrieben wird.
»Ja, er hat sich umgezogen.«
»Wo sind die Kleider, die er abgelegt hat?«
Tanner hatte seine eigene Art, Menschen auszufragen. Er besaß eine gute Einfühlungsgabe, die ihn Schritt für Schritt vorwärtsbrachte. Jeden Fehler des anderen machte er sich zunutze, und auf diese Weise ergab sich zwanglos eine Frage aus der anderen. Aber es dauerte doch noch sehr lange, bis ihm Mrs. Tilling ihre Geschichte erzählte. Seine Mühe hatte sich jedoch gelohnt.
18
Etwa um halb zwei – die genaue Zeit konnte sie nicht angeben – hörte sie, daß ihr Mann nach Hause kam. Sie war wach und lag nicht im Bett, wie sie zuerst gesagt hatte. Tanner vermutete, daß sie jemand erwartet hatte, denn sie gab zu, daß sie im dunklen Wohnzimmer saß. Die Vorhänge waren zurückgezogen; sie konnte von drinnen sehen, wie Tilling ankam, und ging ihm langsam entgegen.
Er sagte ihr nicht, was geschehen war, und erzählte nur, daß es eine kleine Schlägerei gegeben hätte. Sie fragte, ob er mit Dr. Amersham aneinandergeraten wäre, aber darauf ging er nicht ein und erklärte nur, daß er Dr. Amersham nicht getroffen hätte. Sein Rock war zerrissen, der Samtkragen hing herunter, und seine beiden Hände bluteten. Sie bestrich die Wunden mit Jod und verband sie mit einem seidenen Taschentuch. Dann zog er sich um. Als er um halb vier sein Rad nahm und davonfuhr, trug er einen gesprenkelten Anzug. Sie holte die Kleider, die er abgelegt hatte, aus dem Nebenraum. Tanner fand Blutspuren an dem Rock, die aber von den Verwundungen herrührten. Zwei Knöpfe waren abgerissen, ein dritter hing lose am Stoff.
»Hatte er auch Wunden im Gesicht?«
»Ja«, gab sie schließlich zu. »Aber es waren keine offenen Wunden. Jemand mußte ihn geschlagen haben. Er war sehr aufgeregt, gab mir aber keine weiteren Erklärungen und sagte nur, daß er Wilddiebe getroffen und auch sein Gewehr verloren hätte.«
Bill Tanner verglich ihren Bericht mit den Tatsachen, die ihm bekannt waren, und plötzlich kam ihm ein Gedanke.
»Hat er Ihnen Geld gegeben, bevor er fortging?«
Sie wollte zuerst nicht antworten, aber endlich zeigte sie ihm vier neue Fünfpfundnoten.
»Ich werde mir die Nummern der Scheine notieren.«
Als er das tat, sah er, daß die Nummern aufeinander folgten.
»Hatte er noch mehr Geld?«
»Ja, er hatte einen ganzen Stoß Banknoten, von denen er diese vier nahm. In vier bis fünf Wochen wollte er wiederkommen. Ich schwöre, daß er Amersham nicht ermordet hat. Er ist wohl manchmal in schlechter Stimmung, aber er bringt keinen Menschen um. Auch Studd hat er nichts getan. Ich habe ihn noch
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