105 - Das indische Tuch
Freund«, entgegnete sie leise. »Er war ein Mann mit einem eigenen Willen, nur auf seinen Vorteil bedacht.«
Tanner nickte.
»Dann scheint also die Tatsache, daß er kaum hundert Meter von hier entfernt ermordet wurde, kaum einen Eindruck auf Sie zu machen?«
Sie richtete sich auf.
»Das finde ich unverschämt …!«
»Ich habe alles Recht, Ihnen das zu sagen. Sehen Sie denn nicht selbst, Lady Lebanon, daß Ihre Haltung auf jeden Fall sonderbar, wenn nicht sogar anmaßend ist? Sie erklären mir, daß Sie nicht mehr genau wissen, wann Sie Dr. Amersham zum letztenmal gesehen haben, obgleich er noch ein paar Minuten vor seinem Tod mit Ihnen sprach! Sie sagen, Sie können die Zeit nicht genau feststellen, weil er nicht Ihr Freund war, sondern einen selbstsüchtigen Charakter besaß. Das ist doch alles unlogisch. Wenn er nicht mit Ihnen befreundet war, was machte er dann um elf Uhr abends hier?«
»Er wollte mich dringend sprechen.«
»Als Arzt?«
Sie nickte.
»Hatten Sie ihn gerufen?«
Sie dachte einen Augenblick nach, ehe sie antwortete.
»Nein, er kam zufällig!«
»Um elf Uhr abends?« Tanner schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich hatte Nervenschmerzen im Arm.«
»Aber Sie haben doch nicht nach ihm geschickt! Er vermutete also, daß Sie Nervenschmerzen hatten, und kam von London, um Ihnen zu helfen? Hat er Ihnen etwas verschrieben?«
Sie erwiderte nichts darauf.
»Er fuhr gegen zwölf Uhr von hier weg, und zwar den großen Fahrweg entlang. Als er ungefähr die halbe Strecke bis zum Parktor zurückgelegt hatte, sprang von hinten jemand auf seinen Wagen und erwürgte ihn.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Man fand das Auto, aus dem er herausgezerrt wurde, auf der anderen Seite des Dorfes verlassen auf.«
Sie hatte alle Einzelheiten dieses Falles nicht nur einmal, sondern schon oft durchdacht.
»Das interessiert mich nicht«, sagte sie unvorsichtigerweise.
Tanner war überrascht.
»Lady Lebanon, Sie haben diesen Dr. Amersham seit Jahren gekannt, er hat Sie ständig hier besucht – er war Ihr Arzt und Ihr Freund, und Sie interessieren sich nicht dafür, daß er brutal ermordet wurde?«
Sie holte tief Atem.
»Natürlich tut es mir leid. Und es war entsetzlich, daß es hier passieren mußte.«
Es dauerte ziemlich lange, bis er die nächste Frage an sie richtete.
»Was wußte Dr. Amersham?«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.
»Was wußte er?« fragte Tanner aufs neue. »Die letzten Worte, die Sie an ihn richteten, als er das Zimmer verließ, waren ungefähr folgende …«
Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche und las darin nach.
»Sie standen hier« – er zeigte auf eine Stelle in der Nähe ihres Platzes –, »und Sie sagten ärgerlich zu ihm: ›Niemand würde Ihnen glauben, wenn Sie es erzählten. Versuchen Sie es doch. Und vergessen Sie eins nicht: Sie sind ebensogut in die Affäre verwickelt wie jeder andere. Sie haben immer die Absicht gehabt, die Verwaltung von Willies Vermögen an sich zu reißen!‹«
Er schlug das Buch ziemlich heftig zu.
»Das mag nicht der genaue Wortlaut gewesen sein, aber jedenfalls war das der Sinn Ihrer Worte. In welche Affäre war er verwickelt?«
Sie antwortete nicht, denn sie war im Augenblick zu bestürzt und verwirrt über seine weitgehenden Informationen. Dann wurde ihr plötzlich klar, woher er diese Kenntnisse hatte, und ihre bleichen Wangen röteten sich vor Zorn.
»Das hat Ihnen natürlich diese Jackson gesagt, die Zofe, die ich entlassen habe. Sie ist absolut unzuverlässig, deshalb mußte sie gehen. Wenn Sie sich auf die Aussagen entlassener Dienstboten stützen, Mr. Tanner –«
»Ich höre alle Leute an – das ist meine Pflicht. Wie lange war der frühere Lord Lebanon krank, bevor er starb?«
Sie war auf diesen plötzlichen Wechsel des Themas nicht gefaßt und konnte nicht sofort antworten.
»Fünfzehn Jahre«, sagte sie schließlich.
»Welcher Arzt hat ihn behandelt?«
»Dr. Amersham.«
Tanner hatte wieder sein Notizbuch gezogen.
»Obwohl er so lange krank war, starb er ziemlich plötzlich. Ich habe den Wortlaut des Totenscheins hier. Das Dokument wurde von Leicester Amersham unterzeichnet.« Das Notizbuch wanderte wieder in die Tasche. »Während der Krankheit Ihres Mannes haben Sie mit Unterstützung Dr. Amershams das Vermögen verwaltet?«
Sie nickte.
»Ich habe seinen Namen unter einer ganzen Anzahl von Pachtverträgen gefunden. Er besaß wohl Generalvollmacht?«
Sie fühlte sich jetzt sicherer, und sie hatte auch
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