1073 - Liebling der Toten
wütenden Laut entgegen. »Nein, ich bin nicht der Mörder. Das haben andere getan. Aber du sollst sie kennenlernen. Du sollst erleben, daß ich nicht gelogen habe. Ich werde dir die Toten schicken. Sie werden sehr bald wissen, daß du nicht auf meiner Seite stehst, sondern ein Feind von mir bist. Und mit Feinden gehen sie so um, wie diese es verdienen.«
Ich hatte ihn reden lassen müssen. Es war mir nicht gelungen, mich weiter auf ihn zu zu bewegen. Die Mauer war einfach noch zu stark. Das Eis bildete nach wie vor einen unsichtbaren Panzer, und so traf es mich überraschend.
Um Hardy herum baute sich blitzschnell die dunstige und eisige Aura wieder auf. Sie glich einem Nebel. Rotierende Wolken, eiskalt. Sie berührten mich, sie wollten mich wieder völlig starr machen, aber mein Kreuz kämpfte dagegen an.
Noch behielt ich die Nerven und aktivierte es nicht. Es hätte möglich sein können, daß ich die gesamte Szene zerstörte, die sich hier aufgebaut hatte.
Das Zimmer sah nur noch äußerlich normal aus. Tatsächlich aber hatten sich andere Dinge darin festgesetzt. Es war zu einer Insel geworden, die mit der normalen Welt nichts mehr zu tun hatte. Woher die leisen Schreie oder Rufe drangen, fand ich nicht heraus. Aus irgendwelchen Tiefen, die für Menschen nicht einsehbar waren. Möglicherweise waren es die Stimmen der Toten, die sich innerhalb des Nebels verbargen. Sie hatten jetzt die Grenzen hinter sich gelassen, um das nächste Opfer in ihr Reich zu holen.
Hardy stand jetzt an der Wand. So dicht, daß er sie beinahe mit dem Rücken berührte. Er starrte mich an und hielt die Hände dabei nach vorn gestreckt. Sein Gesicht war noch bleicher geworden. Die Augen wirkten dunkler, und die von ihm abstrahlende Aura wirkte sehr, sehr düster.
Mein Kreuz war noch da. Seine Wärme ebenfalls. Nicht heiß, auch nicht verletzend. In gewissen Intervallen strömte sie gegen meine Brust, um sich dort festzusetzen. Die Kraft des Kreuzes baute einen weiteren Schirm auf, an dem niemand vorbeikommen konnte. Es wollte mich schützen, was auch geschah, denn Hardy wirkte nicht sehr glücklich, als er sah, wie relativ gut es mir ging. Hier mußte etwas ablaufen, für das er keine Erklärung fand.
Doch er gab nicht auf.
Er schickte seine Mörder. Und ich sah die Toten!
***
Sie lagen noch nicht frei sichtbar vor mir, sondern hatten sich in den kalten Nebel zurückgezogen. Sie waren auch nicht in ihren Gestalten vorhanden. Zumindest sah ich keine Körper. Was mir vor die Augen kam und zunächst wirkte wie Stöcke, waren Arme und Hände, wie sich bei genauem Hinsehen herausstellte. Gierige, dunkle, lange Arme mit langen Fingern. Sie wollten mich packen, denn sie bewegten sich an Hardy vorbei und auf mich zu.
Sie hatten keine normale Haut. Es waren Hände, die aus Baumrinden geformt zu sein schienen. Lang, rauh, hart. Finger, deren Nägel vorstanden und an Messerspitzen erinnerten.
Verfaulte, verbrannte oder auch verkohlte Totenhände, die das Jenseits entlassen hatte, wenn ich den Worten des jungen Mannes glauben sollte. Ich dachte an den Toten, seine Wunden, und dachte auch einen Schritt weiter. Es war durchaus möglich, daß die Nägel ihn zuerst verletzt und dann getötet hatten. Aufgerissene Haut, tiefe Wunden, das alles konnten sie zurücklassen, und sie wollten es auch an mir ausprobieren.
Sie kamen auf mich zu.
Kein Laut war zu hören. Geisterhaft schwebten sie aus der Kälte hervor in meine Richtung. Gespreizte Finger, die sich nicht bewegten, aber auf verschiedene Stellen meines Körpers zielten und auch das Gesicht nicht ausließen.
Es war mir nach wie vor nicht möglich, die Arme hochzureißen, um zumindest einen Teil meines Gesichts zu schützen. Die Kälte war wieder dichter geworden, aber auch die Wärme auf meinem Oberkörper, die leider nicht meine Arme oder Beine erreichte.
Hinter den Händen sah ich schattenhaft Hardy. Was er tat oder wollte, unterschied ihn kaum von dem toten Killer neben meinen Füßen. Ich war für ihn zu einem Feind geworden, und Feinde mußten vernichtet werden, wie er mir zum Abschied sagte. Zumindest faßte ich diese Sätze als Abschiedsworte auf.
»Du wirst sterben! Du wirst durch sie sterben! Du bist jemand, der nicht auf meiner Seite steht. Du hast es dir selbst verscherzt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Auch wenn ich die Polizei mag und mit ihr weiterhin zusammenarbeiten werde, dich betrifft es nicht mehr. Du hast dich nicht auf meine Seite gestellt. Du hast mich als einen
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