1073 - Liebling der Toten
ausersehen, mir beizustehen. Sie sind immer um mich herum, wie auch jetzt.«
Das stimmte, wenn ich an die Kälte dachte. Sie bestand nicht aus Eis, sondern war tatsächlich so etwas wie eine Aura der Toten. Zwischen dem Diesseits und dem Jenseits mußte es eine Brücke oder einen Tunnel geben, damit die Toten den Weg fanden, um in unsere Welt hineinzugelangen.
»Haben sie den Killer umgebracht?«
»Ja, sie haben mir geholfen. Meine Beschützer haben eingegriffen. Und das wird auch immer so bleiben.«
»Dann beschützen sie einen Mörder«, erklärte ich.
»Na und? Aber was ist Mord? Ich habe nicht gemordet, ich habe nur bestrafen lassen.«
»Wo sind sie?« fragte ich. »Wo kann ich die Toten sehen? Wo halten sie sich versteckt?«
»Nicht sichtbar. Sie sind überall. Sie umgeben mich. Ich kann ihre Stimmen genau hören. Sie haben sich zurückgezogen, aber sie werden wiederkommen, wenn ich es will.«
Was stimmte? Was war gelogen? Mußte ich zu allem ja und amen sagen oder gab es Widersprüche? Vielleicht wollte er auch nur angeben, doch daran glaubte ich nicht. Außerdem mußte ich mir meinen eigenen Zustand vor Augen halten. Ich war nicht in der Lage, mich zu bewegen.
Wenn ich richtig verstanden hatte, dann konnte es nur die Kraft der Toten sein, die mich festhielt.
Ich wollte es sehen, wollte auch mehr erfahren und entschloß mich, ihn zu provozieren. »Man wird dir nichts glauben, Hardy, wenn du vor Gericht stehst. Man wird dir immer die Schuld am Tod des Killers geben. Mag er auch noch so schlimm gewesen sein, es darf keinesfalls gleiches mit gleichem vergolten werden. Ein Gericht braucht Beweise. Du aber bist nicht in der Lage, sie zu liefern. Es ist einfach unmöglich, Hardy. Wie willst du beweisen können, daß nicht du den Mann getötet hast, sondern deine Freunde aus dem Jenseits?«
»Das brauche ich nicht zu beweisen!« erklärte er.
»Ach ja? Wieso das nicht?«
»Es ist einfach so. Ich will es nicht beweisen. Ich werde auch nicht vor Gericht stehen, denn ich mache weiter. Ich bin so etwas wie ein guter Geist. Daran solltest du denken. Ich habe mit euch zusammengearbeitet. Ich bin ein Freund der Polizei.«
Ich schüttelte den Kopf. Er sollte sehen, daß ich da nicht mit ihm übereinstimmte. »Es tut mir leid, aber die Polizei arbeitet nicht mit Mördern zusammen.«
»Ich habe keinen ermordet.«
»Du kannst es nicht beweisen.«
Hardy überlegte einen Moment. Dabei schaute er mich direkt an. Er ließ den Blick nicht von meinem Gesicht. Es kam mir vor, als wollte er meine Gedanken in sich einsaugen. Zum erstenmal sah ich auch so etwas wie eine Regung in seinem Gesicht. Der Ausdruck zeugte von einem gewissen Interesse an meiner Person, und er verengte die Augen sogar zu Schlitzen.
Ich wußte, daß Hardy etwas bedrückte, ihn auch neugierig machte. Er wußte nicht, was er von mir halten sollte. Möglicherweise spürte er auch das gleiche wie ich, nur nicht so direkt.
Ich merkte, daß die Lähmung in mir nachließ. Die Kälte zog sich zurück.
Sie hielt mich nicht mehr so panzerdick umklammert. Ich hoffte, mich auch wieder bewegen zu können. Die Insel in meinem Innern, deren Zentrale noch immer das Kreuz bildete, begann sich auszubreiten. Ich mußte es einfach so ausdrücken, obwohl es möglicherweise nicht stimmte. Aber die normale Wärme meines Kreuzes drückte die Kälte allmählich zurück. Ich wurde freier.
Tief holte ich Luft.
Ja, es ging besser. Ich bewegte meinen rechten Arm und schob ihn dabei nur leicht nach vorn.
Auch das klappte.
Ich bewegte meine Finger, konnte sogar etwas wie eine Faust bilden.
Hardy ließ mich nicht aus der Kontrolle. Er schaute mich scharf an. Er war plötzlich leicht nervös geworden. Wahrscheinlich wunderte er sich, daß ich seiner Aura widerstand, und er wich einen Schritt zurück.
Ich bewegte mich nach vorn.
Nein, so ganz klappte es nicht. Es gelang mir nur, den Fuß vom Boden anzuheben, aber ich machte mir selbst Mut, und ich grinste Hardy scharf an. Er sollte sehen, daß seine Macht und die seiner Freunde nicht unbedingt mit mir machen konnten, was sie wollte.
»Du bist anders!« brach es aus ihm hervor. Seine Stimme klang überrascht. »Ganz anders. Wieso schaffst du es, den Ring zu durchbrechen? Was ist mit dir…?«
»Nichts«, sagte ich leise. »Mit mir ist nichts. Ich will wissen, was du bist. Wer du bist…«
Auf einmal verzerrte sich sein Gesicht. Auch Hardy konnte sich nicht mehr beherrschen. Er öffnete seinen Mund und fauchte mir einen
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