1073 - Liebling der Toten
nicht.«
»Keine Sorge, es läuft schon alles richtig…«
***
Ich hatte Tanner nicht angelogen und war tatsächlich nach Hause gefahren. Aber nicht, um mich hinzulegen und die Augen zu schließen, ich wollte wirklich auf Hardy warten und glaubte sogar daran, daß er mich aufsuchen würde.
Auf der Fahrt war ich sehr aufmerksam gewesen. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck gehabt, ihn in meiner Nähe zu sehen, aber das war wohl mehr eine Täuschung oder Einbildung. Wenn dieser Hardy viel schaffte, unsichtbar konnte er sich nicht machen. Da war er schon noch an gewisse Gesetze gebunden.
Ich ließ den Wagen in die Tiefgarage rollen und stellte ihn an seinem Stammplatz ab. Wie immer stieg ich aus. Wie immer waren es die gleichen Bewegungen. Nur etwas langsamer, und das lag nicht an der stickigen Schwüle innerhalb der Tiefgarage, sondern an der gesamten Atmosphäre, die ich mehr in mir fühlte.
Es war ruhig wie immer. Kein Wagen fuhr hinein, keiner wurde gestartet.
Ich hatte auch nicht im Büro angerufen, wohin ich fahren wollte. Für mich war es wichtig, allein zu sein. Kein anderer sollte mich dabei ablenken können.
Den Weg zum Lift legte ich wie immer zurück. Es gab niemand, der mich dabei aufhielt. Ich betrat die Kabine. Die Tür schloß sich hinter mir.
Zwischen den Wänden war die Luft nicht viel besser. Ich glaubte sogar, sie schmecken zu können.
Es ging hoch in die zehnte Etage.
Je näher ich meinem Ziel kam, um so mehr steigerte sich meine Nervosität. Es gab dafür keinen sichtbaren Grund, allein die Erinnerung an das Geschehene sorgte dafür.
Achte, neunte, die zehnte Etage. Auf der Lichtleiste erschienen die Zahlen.
Dann der Stopp!
Die Tür mußte ich aufdrücken. Alles war wie immer. Ich betrat den Gang und wandte mich nach links, denn dort lagen die beiden Appartments, die Suko und ich bewohnten. Das heißt, Shao lebte noch bei Suko.
Und sie stand im Flur.
Es war nicht besonders hell, sonst wäre mir ihre ungewöhnliche Haltung schon früher aufgefallen. Sie wirkte steif, wie erstarrt, und in mir schrillten einige Alarmsirenen.
Ich ging schneller. Meine Hand näherte sich der Beretta.
»Nein, John, nicht, sonst tötet er mich…«
***
Ich blieb stehen. Daß Shao keinen Scherz trieb, war mir klar. Hinter ihr hörte ich ein Lachen, und sofort danach tauchte Hardy auf, so daß er über Shaos Schulter hinwegschauen konnte. Also doch!
Ich hatte richtig getippt. Er hatte es geschafft. Es war ihm tatsächlich gelungen, meine Anschrift ausfindig zu machen und nun auf mich zu warten.
Da er wußte, daß wir beide nicht unbedingt Freunde waren, hatte er sich einen Trumpf geholt. Ich hatte keine Ahnung, ob er überhaupt wußte, wie stark Shao und ich befreundet waren. Leider hatte er genau das Richtige getan und mich praktisch wehrlos gemacht.
Ich konnte nicht erkennen, welche Waffe er in der Hand hielt. Daß Shao bedroht wurde, davon ging ich einfach mal aus, und ich nickte ihm auch zu. »Du hast gewonnen, Hardy.« Ich spreizte meine Hände vom Körper ab. »Was soll ich tun?«
»Dich ganz normal verhalten. Du wolltest doch in deine Wohnung. Geh hinein. Denk immer daran, wen ich hier als Geisel festhalte. Es würde mir auch nichts ausmachen, eine Frau zu töten.«
»Das glaube ich dir gern.«
Ich fingerte sehr auffällig nach dem Schlüssel und bekam auch mit, wie sehr Shao sich ärgerte, weil sie von Hardy überrumpelt worden war.
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte ich, »wer so aussieht wie er, der ist sogar als Schwiegersohn willkommen.«
»Wie recht du hast, Sinclair.«
Ich ließ das Thema sausen und schloß die Tür auf. Sehr langsam drückte ich sie nach innen und warf den ersten Blick in meine leere Wohnung, in der sich nichts verändert hatte. Auf Hardys Befehl hin mußte ich ins Wohnzimmer gehen. Er und Shao folgten mir. Erst jetzt erkannte ich, welche Waffe er in der Hand hielt.
Es war ein Messer, und seine Spitze drückte sich durch Shaos dünne Kleidung in den Rücken.
Sie mußte ihn stören. So war ich gespannt, was er mit ihr vorhatte. Ich bezweifelte, daß er sie töten würde, und hatte recht damit. Er befahl ihr, sich in einen Sessel zu setzen und sich nicht zu rühren. Shao tat es sofort, und sie war ähnlich verwundert wie ich, denn Hardy stand jetzt nur mit einem Messer bewaffnet vor mir. Es wäre mir ein leichtes gewesen, ihn auszuschalten.
Ich tat es nicht, denn er steckte sogar das Messer wieder weg. Jetzt standen wir uns als zwei völlig normale Menschen
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